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4.11.18

WAS IST THEOSOPHIE?



Von Franz Hartmann

Das Wort „Theosophie“ ist aus den Worten Theos (Gott) und Sophia (Weisheit) zusammengesetzt und wird gewöhnlich als „Gottesweisheit“ übersetzt. Um nun zu begreifen, was mit der Bezeichnung „Gottesweisheit“ gemeint ist, wäre es vor allem nötig, die Bezeichnung „Gott“ zu definieren. Da aber Gott für den Menschen ein Nichts ist, solange der Mensch selbst in göttlicher Beziehung ein Nichts ist, so ist auch der Begriff Gottes über alle Verstandesspekulationen erhaben und für die materielle Auffassung unerreichbar. Solange der Mensch Gott nicht in sich selber fühlt, kann er ihn auch nicht erfassen. Solange er von „Gott“ nichts weist, ist ihm auch der Sinn des Wortes „Gottesweisheit“ unerfassbar, und er betrachtet dieselbe als die Weisheit eines Wesens, das er nicht kennt und das ihn deshalb nichts angeht. Aus diesem Grunde ward der Name „Theosophie“ ein Gegenstand des Spottes derjenigen, welche, da sie selbst keine geistige Selbsterkenntnis besaßen, auch die Möglichkeit einer solchen Erkenntnis verleugneten. Über die Frage: was man unter „Theosophie“ versteht, ist an anderen Stellen schon vieles geschrieben worden, ohne die gewünschte Aufklärung zu bringen, und dennoch scheint uns die Beantwortung einfach zu sein:

„Gottesweisheit“ oder mit anderen Worten „die höchste Weisheit“ ist jedenfalls diejenige, durch welche der Mensch zu seinem höchsten geistigen Ziele gelangen, d. h. durch welche er das höchste Ideal in sich selber verwirklichen kann. Dieses Ziel kann er nur durch Erfüllung des Gesetzes erlangen, und deshalb besteht seine höchste Weisheit darin, das höchste Gesetz des geistigen Menschen zu befolgen und es in sich selbst zum Ausdruck und zur Offenbarung zu bringen. Um aber dieses Gesetz, welches die Grundlage des menschlichen Daseins und der ganzen Natur bildet, befolgen zu können, muss er dasselbe kennen lernen, und da die Tätigkeit dieses Gesetzes in seiner höchsten Wirkungssphäre eine geistige ist, so handelt es sich bei der Erlangung seiner Erkenntnis nicht bloß um eine auf äußere Sinneswahrnehmungen gegründete Theorie, sondern um eine innere Entfaltung und Vervollkommnung der eigenen Geisteskraft. Es ist somit diese Selbsterkenntnis das Ergebnis eigenen Wachstums des geistigen Menschen, ein inneres Erwachen zu einem höheren Grade des Selbstgefühls und Selbstbewusstseins, wodurch der Mensch sich über seine Tiernatur sowohl, als auch über den grübelnden, im Finstern tappenden Rationalismus erhebt und sich durch die Verwirklichung eines höheren Ideales in sich selbst seiner wahren Menschennatur und Würde bewusst wird.


Die praktische Theosophie ist deshalb nichts anderes als die geistige Selbsterkenntnis des Menschen. Sie ist kein Gegenstand der auf der Beobachtung äußerer Erscheinungen beruhenden Wissenschaft und kann selbstverständlich nur das Eigentum desjenigen Menschen sein, in welchem diese Erkenntnis zur eigenen Kraft geworden ist. Solange der Mensch von seinen tierischen Leidenschaften beherrscht wird, oder solange sein „Wissen“ bloß in Meinungen besteht, welche auf Trugschlüssen oder Vorurteilen beruhen, oder die er deshalb glaubt, weil sie ihm von anderen gelehrt wurden, ist er auch nur ein Sklave von Leidenschaften und Meinungen, und seine Erkenntnis ist nicht diejenige, welche durch das eigene Erkennen der Wahrheit entsteht, und wodurch er zur göttlichen Freiheit gelangt.

Unter diesen Umständen kann es nicht die Aufgabe der „Theosophie“ sein, von irgend jemand einen blinden Glauben an irgend eine Lehre, welche für etwas „Neues“ gehalten werden dürfte, zu verlangen; auch kann kein Mensch einen anderen, sondern nur jeder sich selbst zum „Theosophen“ machen; denn das geistige Licht muss in dem eigenen Innern des Menschen erwachen, wenn es sein Inneres erleuchten soll. Dasjenige aber, was der Erlangung der wahren Erkenntnis im Wege steht, ist einerseits die Selbstsucht die Leidenschaften und alles, was aus der Tiernatur des Menschen entspringt und ihn hindert, sich über dieselbe zu erheben, andererseits sind es die Irrtümer, welche durch das Nichterkennen innerer Ursachen und die auf falscher Beurteilung äußerer Erscheinungen beruhenden Trugschlüsse entstanden sind. Vor allem aber ist der Erkenntnis der Wahrheit die falsche und bloß äußerliche Auslegung religiöser Allegorien im Wege. Was wir deshalb beabsichtigen, ist, soweit es in unseren Kräften steht, denjenigen, welche nach einem wirklichen geistigen Fortschritt trachten, ein klares Bild über die innere höhere Menschennatur zu verschaffen und ihnen behilflich zu sein, sich aus den Banden der Selbstsucht und den Irrtümern einer falschen Philosophie zu befreien.

Um vollkommene Gewissheit über die wahre geistige Natur des Menschen, die Veredlung, welcher der Mensch fähig ist, und seine magischen (geistigen) Kräfte zu erlangen, dazu gibt es nur einen einzigen Weg, nämlich dasjenige selbst zu sein, was man zu erkennen wünscht. Nur der Tugendhafte kann die Tugend, der Weise die Weisheit, der Mächtige die Macht kennen; um aber den Weg zur Ausübung der Theorie zu finden, dazu ist es vorerst nötig, die richtige Theorie zu suchen.

Es gibt zwei Wege, auf denen wir zwar noch keine Gewissheit, aber dennoch eine zuverlässige Anschauung der Dinge, welche sich der sinnlichen Wahrnehmung entziehen, erlangen können.

Der erste Weg ist derjenige der philosophischen Spekulation, wobei nicht nur die im gewöhnlichen Leben vorkommenden äußeren Naturerscheinungen, sondern auch die sogen: mystischen Ereignisse, die Tatsachen des Spiritismus, Okkultismus, Hypnotismus, Magnetismus u. s. w. in Betracht genommen werden müssen. Insofern dieses Philosophieren aber auf Schlussfolgerungen beruht, welche sich auf Tatsachen beziehen, die selbst noch der Erklärung bedürfen, ist dieser Weg auch nicht sicher und führt nur selten zum Ziele, sondern leitet meistens in ein Labyrinth von verkehrten Meinungen und häufig zum Aberglauben oder zur Narrheit, vorausgesetzt, dass man nicht durch fortwährende Enttäuschungen selbst zu der Überzeugung gelangt, dass die zur Erklärung mystischer Phänomene gewöhnlich angegebene Theorie nicht die richtige ist und dass man sich selber betrogen hat.

Der andere Weg ist, dass man dasjenige, was geistig erleuchtete Menschen, wie man sie in allen Nationen sinden kann, über das wahre Wesen des Menschen und über die geheimnisvollen Erscheinungen in der Natur gelehrt haben, vom geistigen Standpunkte ausgehend prüft, ihre Lehren miteinander vergleicht und sich dadurch selbst befähigt, eine höhere Weltanschauung und Erkenntnis zu erlangen. Hierbei handelt es sich keineswegs um einen blinden „Glauben“, sondern nur darum, dass man dasjenige, was man kennen lernen will, nicht schon von vornherein als ein „Nichtmögliches“ verwirft. Wer sich weigert, an das Vorhandensein des Gegenstandes, den er untersuchen will, zu glauben, der wird sich auch nicht von dessen Eigenschaften überzeugen können. Wer in seinem Eigendünkel dasjenige verwirft, was er nicht schon zu wissen glaubt, oder was nicht mit seinen Vorurteilen übereinstimmt der gleicht einem Menschen, welcher ein vor ihm stehendes Ding nicht sehen kann, weil er absichtlich seine Augen davor verschließt.

Die theoretische Theosophie besteht also darin, die Lehren der Weisen aller Nationen, der indischen Lehrer, der christlichen Mystiker der Adepten und Heiligen miteinander zu vergleichen, den Kern der Wahrheit, welcher in allen Systemen enthalten ist, zu finden und zu untersuchen, inwiefern diese Lehren zur Erklärung mystischer oder nichtmystischer Tatsachen dienen können. Sie befasst sich weder mit „wissenschaftlichen“ Spekulationen, denen keine Wahrheit zu Grunde liegt, noch mit sogenannten „Ofsenbarungen aus dem Jenseits“, sondern es ist ihr nur darum zu thun, über die wahre Natur des Menschen und dessen Stellung im Weltall ein Licht zu verbreiten, von dem jeder vorurteilsfreie Mensch aus eigener innerer Überzeugung erkennen muss, dass es die Wahrheit ist.


(Sphinx, May 1892, Band 13, S. 197-199)





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