Von Franz
Hartmann
Das Wort „Theosophie“ ist aus den Worten Theos (Gott) und Sophia (Weisheit)
zusammengesetzt und wird gewöhnlich als „Gottesweisheit“ übersetzt. Um nun zu
begreifen, was mit der Bezeichnung „Gottesweisheit“ gemeint ist, wäre es vor
allem nötig, die Bezeichnung „Gott“ zu definieren. Da aber Gott für den
Menschen ein Nichts ist, solange der Mensch selbst in göttlicher Beziehung ein
Nichts ist, so ist auch der Begriff Gottes über alle Verstandesspekulationen
erhaben und für die materielle Auffassung unerreichbar. Solange der Mensch Gott
nicht in sich selber fühlt, kann er ihn auch nicht erfassen. Solange er von
„Gott“ nichts weist, ist ihm auch der Sinn des Wortes „Gottesweisheit“ unerfassbar,
und er betrachtet dieselbe als die Weisheit eines Wesens, das er nicht kennt
und das ihn deshalb nichts angeht. Aus diesem Grunde ward der Name „Theosophie“
ein Gegenstand des Spottes derjenigen, welche, da sie selbst keine geistige
Selbsterkenntnis besaßen, auch die Möglichkeit einer solchen Erkenntnis
verleugneten. Über die Frage: was man unter „Theosophie“ versteht, ist an
anderen Stellen schon vieles geschrieben worden, ohne die gewünschte Aufklärung
zu bringen, und dennoch scheint uns die Beantwortung einfach zu sein:
„Gottesweisheit“ oder mit anderen Worten „die höchste Weisheit“ ist
jedenfalls diejenige, durch welche der Mensch zu seinem höchsten geistigen
Ziele gelangen, d. h. durch welche er das höchste Ideal in sich selber verwirklichen
kann. Dieses Ziel kann er nur durch Erfüllung des Gesetzes erlangen, und
deshalb besteht seine höchste Weisheit darin, das höchste Gesetz des geistigen
Menschen zu befolgen und es in sich selbst zum Ausdruck und zur Offenbarung zu
bringen. Um aber dieses Gesetz, welches die Grundlage des menschlichen Daseins
und der ganzen Natur bildet, befolgen zu können, muss er dasselbe kennen
lernen, und da die Tätigkeit dieses Gesetzes in seiner höchsten Wirkungssphäre
eine geistige ist, so handelt es sich bei der Erlangung seiner Erkenntnis nicht
bloß um eine auf äußere Sinneswahrnehmungen gegründete Theorie, sondern um eine
innere Entfaltung und Vervollkommnung der eigenen Geisteskraft. Es ist somit
diese Selbsterkenntnis das Ergebnis eigenen Wachstums des geistigen Menschen,
ein inneres Erwachen zu einem höheren Grade des Selbstgefühls und Selbstbewusstseins,
wodurch der Mensch sich über seine Tiernatur sowohl, als auch über den
grübelnden, im Finstern tappenden Rationalismus erhebt und sich durch die
Verwirklichung eines höheren Ideales in sich selbst seiner wahren Menschennatur
und Würde bewusst wird.
Die praktische Theosophie ist deshalb nichts anderes als die geistige
Selbsterkenntnis des Menschen. Sie ist kein Gegenstand der auf der Beobachtung
äußerer Erscheinungen beruhenden Wissenschaft und kann selbstverständlich nur
das Eigentum desjenigen Menschen sein, in welchem diese Erkenntnis zur eigenen
Kraft geworden ist. Solange der Mensch von seinen tierischen Leidenschaften
beherrscht wird, oder solange sein „Wissen“ bloß in Meinungen besteht, welche
auf Trugschlüssen oder Vorurteilen beruhen, oder die er deshalb glaubt, weil
sie ihm von anderen gelehrt wurden, ist er auch nur ein Sklave von
Leidenschaften und Meinungen, und seine Erkenntnis ist nicht diejenige, welche
durch das eigene Erkennen der Wahrheit entsteht, und wodurch er zur göttlichen
Freiheit gelangt.
Unter diesen Umständen kann es nicht die Aufgabe der „Theosophie“ sein, von
irgend jemand einen blinden Glauben an irgend eine Lehre, welche für etwas
„Neues“ gehalten werden dürfte, zu verlangen; auch kann kein Mensch einen
anderen, sondern nur jeder sich selbst zum „Theosophen“ machen; denn das geistige
Licht muss in dem eigenen Innern des Menschen erwachen, wenn es sein Inneres
erleuchten soll. Dasjenige aber, was der Erlangung der wahren Erkenntnis im
Wege steht, ist einerseits die Selbstsucht die Leidenschaften und alles, was
aus der Tiernatur des Menschen entspringt und ihn hindert, sich über dieselbe
zu erheben, andererseits sind es die Irrtümer, welche durch das Nichterkennen
innerer Ursachen und die auf falscher Beurteilung äußerer Erscheinungen
beruhenden Trugschlüsse entstanden sind. Vor allem aber ist der Erkenntnis der
Wahrheit die falsche und bloß äußerliche Auslegung religiöser Allegorien im
Wege. Was wir deshalb beabsichtigen, ist, soweit es in unseren Kräften steht,
denjenigen, welche nach einem wirklichen geistigen Fortschritt trachten, ein
klares Bild über die innere höhere Menschennatur zu verschaffen und ihnen
behilflich zu sein, sich aus den Banden der Selbstsucht und den Irrtümern einer
falschen Philosophie zu befreien.
Um vollkommene Gewissheit über die wahre geistige Natur des Menschen, die
Veredlung, welcher der Mensch fähig ist, und seine magischen (geistigen) Kräfte
zu erlangen, dazu gibt es nur einen einzigen Weg, nämlich dasjenige selbst zu
sein, was man zu erkennen wünscht. Nur der Tugendhafte kann die Tugend, der
Weise die Weisheit, der Mächtige die Macht kennen; um aber den Weg zur Ausübung
der Theorie zu finden, dazu ist es vorerst nötig, die richtige Theorie zu
suchen.
Es gibt zwei Wege, auf denen wir zwar noch keine Gewissheit, aber dennoch
eine zuverlässige Anschauung der Dinge, welche sich der sinnlichen Wahrnehmung
entziehen, erlangen können.
Der erste Weg ist derjenige der philosophischen Spekulation, wobei nicht
nur die im gewöhnlichen Leben vorkommenden äußeren Naturerscheinungen, sondern
auch die sogen: mystischen Ereignisse, die Tatsachen des Spiritismus,
Okkultismus, Hypnotismus, Magnetismus u. s. w. in Betracht genommen werden
müssen. Insofern dieses Philosophieren aber auf Schlussfolgerungen beruht,
welche sich auf Tatsachen beziehen, die selbst noch der Erklärung bedürfen, ist
dieser Weg auch nicht sicher und führt nur selten zum Ziele, sondern leitet
meistens in ein Labyrinth von verkehrten Meinungen und häufig zum Aberglauben
oder zur Narrheit, vorausgesetzt, dass man nicht durch fortwährende
Enttäuschungen selbst zu der Überzeugung gelangt, dass die zur Erklärung
mystischer Phänomene gewöhnlich angegebene Theorie nicht die richtige ist und
dass man sich selber betrogen hat.
Der andere Weg ist, dass man dasjenige, was geistig erleuchtete Menschen, wie
man sie in allen Nationen sinden kann, über das wahre Wesen des Menschen und
über die geheimnisvollen Erscheinungen in der Natur gelehrt haben, vom
geistigen Standpunkte ausgehend prüft, ihre Lehren miteinander vergleicht und
sich dadurch selbst befähigt, eine höhere Weltanschauung und Erkenntnis zu
erlangen. Hierbei handelt es sich keineswegs um einen blinden „Glauben“,
sondern nur darum, dass man dasjenige, was man kennen lernen will, nicht schon
von vornherein als ein „Nichtmögliches“ verwirft. Wer sich weigert, an das
Vorhandensein des Gegenstandes, den er untersuchen will, zu glauben, der wird
sich auch nicht von dessen Eigenschaften überzeugen können. Wer in seinem Eigendünkel
dasjenige verwirft, was er nicht schon zu wissen glaubt, oder was nicht mit
seinen Vorurteilen übereinstimmt der gleicht einem Menschen, welcher ein vor
ihm stehendes Ding nicht sehen kann, weil er absichtlich seine Augen davor
verschließt.
Die theoretische Theosophie besteht also darin, die Lehren der Weisen aller
Nationen, der indischen Lehrer, der christlichen Mystiker der Adepten und
Heiligen miteinander zu vergleichen, den Kern der Wahrheit, welcher in allen
Systemen enthalten ist, zu finden und zu untersuchen, inwiefern diese Lehren
zur Erklärung mystischer oder nichtmystischer Tatsachen dienen können. Sie
befasst sich weder mit „wissenschaftlichen“ Spekulationen, denen keine Wahrheit
zu Grunde liegt, noch mit sogenannten „Ofsenbarungen aus dem Jenseits“, sondern
es ist ihr nur darum zu thun, über die wahre Natur des Menschen und dessen
Stellung im Weltall ein Licht zu verbreiten, von dem jeder vorurteilsfreie
Mensch aus eigener innerer Überzeugung erkennen muss, dass es die Wahrheit ist.
(Sphinx, May 1892, Band 13, S. 197-199)
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