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3.11.18

ÜBER DEN FORTSCHRITT DER THEOSOPHISCHEN BEWEGUNG IN EUROPA



Von Franz Hartmann

Vor allem erlauben wir uns zu bemerken, dass, wenn wir über den Fortschritt der theosophischen Bewegung in Europa zu sprechen beabsichtigen, wir dabei keineswegs die Ausbreitung der „Theosophischen Gesellschaft“ im Auge haben, sondern den Fortschritt der Menschheit in der Erkenntnis der Wahrheit Theosophie im wahren Sinne des Wortes ist die Erkenntnis der Wahrheit, die Anerkennung der wahren Menschennatur und ihrer Rechte. Die „Theosophische Gesellschaft“ dagegen ist nichts anderes als ein Verein, welcher sich die Beförderung dieser Erkenntnis, nach welcher die ganze Menschheit ringt, zur Aufgabe gemacht hat, und um ein wirklicher Theosoph zu sein, d. h. Selbsterkenntnis zu erlangen, ist es nicht nötig, irgend einem äusseren Vereine anzugehören. Wer das nicht innerlich ist, was er äusserlich vorstellt, der ist nichts als ein Schauspieler, welcher Komödie spielt; diejenigen aber, welche nach Wahrheit im Geiste der Wahrheit streben, sind durch diesen Geist geistig vereint, wenn sie auch äusserlich noch so sehr von einander verschieden sind.

Wir könnten statt „theosophische Bewegung“ die Bezeichnung „Bewegung des Fortschrittes, der Freiheit, der Aufklärung, der Civilisation“ u. dgl. benützen; allein alle diese Bezeichnungen sind zweideutig und werden häufig auf Dinge angewendet, die geradezu dem wirklichen Fortschritt, der wahren Freiheit usw. entgegengesetzt sind. Für die Bezeichnung „Selbsterkenntnis“, d. h. Erkenntnis der Hoheit und Freiheit der wahren Menschennatur, dürfte kaum ein Missverständnis zu befürchten sein. Sie wird entweder richtig oder garnicht verstanden. Diese erhabene Selbsterkenntnis ist die Wurzel, aus welcher aller geistige Fortschritt, alle wahre Freiheit und wirkliche Kultur entspringen; sie ist der Fels, auf welchem die wahre Religion im Menschenherzen beruht, und ohne welche die Wissenschaft keine Festigkeit hat. Wer irgend ein grosses, erhabenes, uneigennütziges Werk vollbringt, der handelt im Geiste der Theosophie; denn jede edle That, welche die Welt beglückt und keinen anderen Beweggrund hat, als Gutes zu thun, entspringt dem höheren Selbstbewusstsein, in welchem der Mensch die Göttlichkeit seiner Natur, wenn auch nicht völlig erkennt, so doch fühlt.

Um daher den Fortschritt der theosophischen Bewegung in Europa zu verfolgen, müssten wir alle die grossen und edlen Thaten, welche daselbst in den verschiedenen Gebieten der Politik, der Religion, Wissenschaft, Humanität, Rechtspflege u. s. f. während der letzten Jahrzehnte ausgeführt wurden, untersuchen, und um dies zu thun, müssten wir auch die Motive kennen, welche denselben zugrunde lagen, und da würde es sich vielleicht zeigen, dass manche That, welche von der Mit- und Nachwelt angestaunt wird, nicht aus Liebe zum Besten der Menschheit, sondern aus persönlichem oder nationalem Interesse, aus Eitelkeit, Herrschsucht u. dgl. entsprang. Da es aber nicht unsere Sache ist, über die Gewissenszustände von Personen ein Urteil zu sprechen, so müssen wir auf ein tieferes Eingehen in diesen Gegenstand verzichten, und uns an äusserlich auftretende Erscheinungen halten.

Hier begegnen wir nun in der Litteratur einem bedeutenden Umschwung in Bezug auf Weltanschauung. Die Affenphilosophie, welche vor zwanzig Jahren noch überall Mode war, ist vom Markte verschwunden und der Affenvogt regiert heutzutage nur mehr in den Kneipen und in den Köpfen der untersten Klassen der Gesellschaft. Noch ist es nicht lange her, dass man von „Geist“, „Gemüt“ und „Seele“ in den Kreisen der „Aufgeklärten“ nicht sprechen konnte, ohne für einen Schwärmer gehalten zu werden. Tugend, Gerechtigkeit, Selbstbewusstsein, Ehrlichkeit und Geduld waren die Resultate der körperlichen Ernährung, die Entwicklungsprodukte von etwas Höherem aus etwas Niedrigem, ohne die Gegenwart eines höheren Prinzips, an dessen Offenbarwerden zu glauben ein Unsinn war. Das Leben selbst war ein Resultat zufällig zusammenwirkender lebloser mechanischer Kräfte, ohne Lebensprinzip, das Denken eine mechanische Thätigkeit des Gehirns ohne irgend 'einen Einfluss von Ideen, und der Glaube an eine göttliche Kraft, aus der alles, was da ist, seinen Ursprung nahm, wurde als ein Aberglaube betrachtet, der nur noch in der Rumpelkammer mittelalterlicher Verrücktheiten einen Platz hatte. Ludwig Büchner war damals das angebetete goldene Kalb der deutschen Philosophie; aber der Zeitgeist war stärker als seine Philosophie, von der es sich übrigens jetzt herausstellt, dass sie nicht so schlimm gemeint war, als sie aufgefasst wurde. Man konnte sich nicht in die Länge damit begnügen, das Nichts anzubeten, man konnte die materialistischen Theorien, in denen kein Funke von Wahrheit war, nicht mit dem Wahrheitsgefühl im Herzen in Einklang bringen; selbst die Vorstellung schreckte zurück vor den Resultaten einer Weltanschauung, in welcher alles auf blindem Zufall beruht. Man suchte tiefer und man verfiel auf den „Hypnotismus“, die „Suggestion“ und „Telepathie“, welche in Deutschland in Karl Du Prel einen gewandten Verteidiger fanden.

Dieser „Hypnotismus“ usw. haben dem Eigendünkel der Wissenschaft, welcher sich damals auf dem Gipfelpunkte alles möglichen Wissens angelangt zu sein wähnte, einen gewaltigen Strich durch die Rechnung gemacht. Allerdings waren diese Dinge schon längst den alten Philosophen, wenn auch unter anderen und besseren Namen bekannt, finden sich in den Büchern von Theophrastus Paracelsus, den Schriften der Rosenkreuzer usw. beschrieben, und sind in der That nur die Anfangsgründe der den Indiern so ausführlich bekannten „geheimen“ Naturwissenschaft. Aber für unsere Gelehrten waren sie etwas Niedagewesenes, Unerhörtes und Unglaubliches, man taufte sie mit unpassenden Namen, welche davon Zeugnis geben, dass man ihr Wesen nicht erkennt, und schmückt sich nun mit den Federn, welche Paracelsus, Cagliostro und Jakob Boehme gehören. Aber es naht die Zeit, wo man begreifen wird, dass die Welt nicht durch eine hypnotische Autosuggestion entstanden ist, dass das göttliche Selbstbewusstsein dem Menschen nicht „einhypnotisiert“ werden kann, und dass im Herzen des Universums, wie auch in der Seele das Menschen eine höhere Kraft waltet, die sich die ganze Natur unterwerfen kann, sobald sie offenbar wird, nämlich die göttliche Selbsterkenntnis, die göttliche Weisheit oder „Theosophie“.

Wenn es auf dieser Welt etwas im Grunde Falsches und Verlogenes giebt, so ist dies die Weltgeschichte, wie sie heutzutage die Grundlage des Wissens des „aufgeklärten Kulturmenschen“ bildet. Wie könnte es auch anders sein, da sie von Personen geschrieben ist, welche weder die Gesetze des Karma, das die Menschen zum Handeln treibt, noch von dem Ursprung des Daseins und der zu dessen Erhaltung nötigen allgegenwärtigen Kraft Kenntnis haben?

Von den 18,618,732 Jahren, welche seit dem Erscheinen von Vaivasvatu Manu, unseres Stammvaters, vergangen sind, kennt die moderne Weltgeschichte kaum einen Zeitraum von 2000 Jahren und auch von diesen weiss sie nichts, das von wesentlicher Bedeutung wäre, und auf dessen Richtigkeit man sich wirklich verlassen könnte. Sie kann uns nur über einige in verhältnismässig neuerer Zeit zutage getretene äussere Erscheinungen Nachricht geben, deren innere Ursachen sie nicht kennt, sie handelt von Personen, die sie nicht kennen kann, weil sie nicht weiss, dass alle Personen nur Symbole, Instrumente einer allen Erscheinungen zugrunde liegenden geistigen Kraft sind, deren Dasein sie nicht kennt und deren Natur für sie ein Rätsel ist. Unter diesen Umständen ist das Erscheinen von H. P. Blavatskys „Secret Doctrine" (Geheimlehre) ein epochemachendes Ereignis. Aus dem Grunde der Selbsterkenntnis geschrieben und mit logischen Gründen gepanzert, giebt sie uns ein wahres Bild der Geschichte der Welt, und es ist sehr zu wünschen, dass dieses Buch ins Deutsche übersetzt wird, sobald das Verständnis in Deutschland reif dazu wird; denn eine wahre Anschauung der Natur des Weltalls und der Konstitution des inneren Menschen ist die Grundlage aller Philosophie und Religion.

In religiöser Beziehung erblicken wir auch in Deutschland eine Auflösung der steifen Formen und dadurch ein Freiwerden des Geistes, der die belebende Kraft der Formen ist. Trotz alles staatlichen Schutzes beginnt das Pfaffentum zu wanken und dadurch der Geist des wahren Christentums, welcher die Wahrheit ist, sich auszubreiten und in die Tiefen der Menschenherzen zu dringen. Christus, der so lange als Kirchendiener behandelt wurde, fängt wieder an als der König der Kirche betrachtet zu werden, und wenn auch in kirchlichen Kreisen noch überall das Selbstinteresse vorherrschend ist, so besitzt dasselbe doch nicht mehr seine frühere Gewalt. Die Predigten, welche man heutzutage von den Kanzeln hört, atmen vielfach einen ganz anderen Geist, als vor zwanzig Jahren, und viele davon zeugen von einem höheren Grade der Erkenntnis, welcher auch die Geistlichkeit ergriffen hat. Eine Rückkehr zum heuchlerischen Muckertum des vorigen Jahrhunderts halten wir für eine Unmöglichkeit. Eine Bürgschaft vor dieser Rückkehr ist uns das Fiasko, welches das vorgeschlagene Schulgesetz machte.

Wie durch die Ausbreitung der Toleranz dem sektiererischen Unwesen der verschiedenen Kirchengemeinden der Boden entzogen wird, so hat auch durch das Aufhören der Opposition die Freimaurerei den Zweck ihres Daseins teilweise verloren. Wo jeder seine Meinung frei aussprechen darf, da ist kein Grund vorhanden, dieselbe geheim zu halten.

Was aber die wirklichen okkulten Mysterien, die Religionsgeheimnisse betrifft, so sind dieselben in der modernen Freimaurerei schon längst zur Fabel geworden. Wir sehen in Deutschland keinen Kerning (Koalis) mehr als Meister vom Stuhl, und das geheimnisvolle Wort, welches beim Tode von Hiram Abiff verloren ging, ist auch noch jetzt nicht in den Logen zu finden, weil es ein lebendiges Wort ist, das nur im Innern, wo es wenige suchen, zu finden ist. Wie die Kirchen, so sind auch die Freimaurerlogen zum grossen Teil nur Plätze für gesellige Unterhaltung geworden. Die wahre Freimaurerei, d. h. die von aller Dogmatik freie innere Erbauung des geistigen Menschen, ist aber nur dann möglich, wenn alle Separatinteressen beiseite gesetzt werden und die eine göttliche Wesenheit, welche im Herzen von allen wohnt, anerkannt wird.

Diese Einheit und die daraus folgende Einheit aller Völker und Menschen zu begreifen, wäre wohl nirgends nötiger als in Österreich, wo sich so viele Nationalitäten mit ihren Sonderinteressen feindselig gegenüberstehen. Hier fände sich zu diesem Zwecke ein grosses und fruchtbares Feld für den Wirkungskreis einer „theosophischen Gesellschaft“. Leider aber widersetzen sich die massgebenden Behörden, die Erlaubnis zum Bestehen eines solchen Vereins zu erteilen, da sie sich, aus unbegreiflichen Gründen, einbilden, dass dieser Verein ein „geheimer“ sei. Sicherlich wird sich aber auch hier der Zeitgeist an seinem Fortschritt nicht durch die Bureaukratie hindern lassen, wenn auch dieselbe seiner äusseren Bethätigung einen Stein in den Weg legen kann.

Als eines der erfreulichsten Ereignisse in Österreich erscheint uns das Erscheinen der Zeitschrift „Die Waffen nieder“, herausgegeben von Baronin Bertha von Suttner. Ein allgemeiner Weltfriede wäre allerdings sehr erwünscht, nur wird es nicht möglich sein, durch äussere Mittel ihn zu erlangen. Erst wenn im Herzen der Friede wohnt, kann auch das Äussere zur dauernden Ruhe kommen, im einzelnen Menschen sowohl als im Leben der Völker. Dieser Friede wird aber nicht durch blosse Argumente über die Zweckmässigkeit desselben oder durch die Betrachtung äusserlicher Vorteile, die durch denselben erlangt werden könnten, sondern nur durch die Selbsterkenntnis erlangt. Es giebt keinen andern Erlöser, als die göttliche Liebe. Diese Liebe aber ist die Selbsterkenntnis Gottes im Menschen, wodurch der Mensch sich selbst als ein Glied der grossen Kette, als eine Einheit im Ganzen erkennt.

In Russland scheint es noch sehr dunkel zu sein. Die Selbstsucht tritt dort in verschiedenen Formen, als Antisemitismus, Orthodoxie, Bestechlichkeit usw., ganz besonders auf. Dass es aber auch in Russland einzelne Menschen giebt, welche einer höheren Erleuchtung der Vernunft fähig sind, beweist das Auftreten von Leo Tolstoi und „Vater Johannes“ von Kronstadt. Den jNachrichten zufolge, die wir über den letzteren erhalten, scheint derselbe ein wirklicher Yogi (ein Heiliger) zu sein, der alles durch seine geistige Kraft (Beredsamkeit, Heilung von Krankheiten, Auferweckung von Toten), wie auch durch seine Selbstaufopferung und Wohlthätigkeit in Bewunderung versetzt.

In Frankreich scheint man keine Zeit zu haben, zur Selbsterkenntnis zu kommen. Man ist dort viel zu sehr mit äusseren Dingen beschäftigt, um das Innere, aus dem schliesslich alles Äussere kommt, kennen zu lernen. Zwar bemüht sich unser Freund M. Coulomb, seinen Landsleuten im „Lotus bleu“ die Lehren der indischen Adepten zur Kenntnis zu bringen, und sie dadurch einer höheren Weltanschauung zugänglich zu machen, aber von den wenigen, welche diesen erhabenen Lehren lauschen, erfassen die meisten nur die wissenschaftliche Seite derselben und suchen die dabei erlangten metaphysischen Kenntnisse zu irdischen Zwecken auszunützen, während sie das religiöse Element ausser acht lassen. Andererseits versucht die Herzogin von Pomar, von den besten Absichten beseelt, in ihrer „Amore“ die christliche Religion mit der menschlichen Vernunft in Einklang zu bringen, was wohl kaum gelingen wird, so lange diese Vernunft nicht von göttlicher Weisheit erleuchtet ist. Dies wird aber schwerlich der Fall sein, so lange man in Frankreich nicht die Nichtigkeit aller irdischen Dinge erkennt, und es steht zu befürchten, dass man dort noch eine harte Schule wird durchmachen müssen, ehe man zu dieser Erkenntnis gelangt. Allerdings hat es den Anschein, als ob die geistige Flut, deren Wellenschlag jetzt alle Länder der Erde berührt, auch in Frankreich sich fühlbar mache, denn ein gewisser neuer Kanzelredner namens Pelardin (?) soll dort grosses Aufsehen machen und Tausende mit seinen Worten begeistern. Wir wollen hoffen, dass diese Begeisterung eine bleibende ist; aber so wie wir den Nationalcharakter der Pariser kennen, scheint es uns, dass, wenn selbst ein Engel dort sichtbar vom Himmel herniederstiege, er auch nur vorübergehendes Staunen erregen und man nicht weiter daran denken würde, sobald ein neues Ballett in die Mode käme.

In Spanien scheinen die theosophischen Lehren raschere Anerkennung zu finden, was wohl der vorzüglichen Redaktion der „Estudios Teosoficos“ zu danken ist. Italien dagegen befindet sich noch in der Kindheit des „Spiritismus“, welcher in Deutschland ein überstandener Standpunkt zu werden beginnt, wofür wir der „Sphinx“ zu Dank verpflichtet sind.

Der Norden ist das Land der Träumerei, und deshalb konnte es auch nicht fehlen, dass die so geheimnisvoll und märchenhaft klingenden Lehren der Indier einen tiefen Eindruck auf den Norden machten, und in Schweden, Dänemark und Norwegen rasche Verbreitung fanden. Die Selbsterkenntnis ist aber kein leerer Traum, wenn sie sich einmal im Menschen verwirklicht hat, und die „theosophische Bewegung“ im Norden bietet günstige Vorzeichen, dass diese Verwirklichung des höchsten Idealen dort vielfach Platz greifen und die Ursache eines neuen Erwachens sein wird, welches alles Vergängliche als einen trügerischen Traum erscheinen lässt.

In England findet dies Erwachen vielfach statt, und man fängt an zu begreifen, dass ein äusserer Firnis von Moralität noch lange keine Tugend ist. Die öffentlichen Vorlesungen von Mrs. Annie Besant sind stets überfüllt, so dass man fortwährend gezwungen ist, sich nach noch grösseren Versammlungslokalen umzusehen. Das Andenken von H. P. Blavatsky wird jetzt ebenso hoch gehalten, als ihre Person zu Lebzeiten verlästert wurde. Zahlreiche Wohlthätigkeitsanstalten wurden von der „Theosophischen Gesellschaft“ gegründet, und die „Theosophical Publication Society“ unter der Leitung von Gräfin Wachtmeister verbreitet eine grosse Menge theosophischer Litteratur.

Was aber uns betrifft, so haben wir das begonnene Werk aus keinem anderen Grunde übernommen, als um der Sache des geistigen Fortschrittes in Deutschland einen Dienst zu erweisen, und sind gerne bereit, die Feder niederzulegen, sobald sich jemand findet, der sie besser zu führen versteht. Wir gehören keiner Sekte an, und betrachten als unseren Mitarbeiter jeden gut und edel denkenden Menschen, und verlangen von ihm nichts anderes, als dass er seiner innersten Überzeugung gemäss handelt. Ob er der „Theosophischen Gesellschaft“ angehört oder nicht, ist uns gleichgültig, und wenn er auch die Bedeutung der Bezeichnung „Theosophie“ nicht kennt, oder ihm diese Bezeichnung zuwider ist, weil er damit falsche Begriffe verbindet, thut dies nichts zur Sache. Um geistige Selbsterkenntnis zu besitzen, dazu braucht man keine indische Philosophie zu studieren, und wer keine eigene Erkenntnis besitzt, der hat auch keinen Nutzen von irgendwelcher Philosophie. Wer aber die Wahrheit in sich hat, und sie nicht erkennen kann, weil ihm angelernte und anerzogene Vorurteile und Wahnbegriffe im Wege stehen, welche er nicht abschütteln kann, der wird in den Weisheitslehren des Orients einen Weg finden, der ihn zu der Quelle leitet, aus welcher jeder selbst unsterbliche Wahrheit schöpfen kann.

Diese Quelle ist die Wahrheit selbst. Die theoretische Kenntnis der Wahrheit ist Philosophie, die praktische Selbsterkenntnis derselben ist Theosophie. Dass wir unsere Lehren nicht als „Philosophie“, sondern als der „Theosophie“ zugehörig bezeichnen, hat darin seinen Grund, dass dieselben nicht der logischen Spekulation, sondern der göttlichen Selbsterkenntnis der Weisen entsprangen. Ob es aber eine solche göttliche Selbsterkenntnis im Menschen giebt, und ob dieselbe möglich ist, darüber zu streiten ist nutzlos; der einzige Weg, um sich davon zu überzeugen, ist, dass man sie selber erlangt, und man erlangt sie nur dadurch, dass man sich völlig in sie ergiebt. Diese Selbsterkenntnis der eigenen göttlichen Natur ist das wahre Geistesleben im Menschen, das Licht, welches ihn erleuchtet und welches auch im Tode nicht erlischt. Deshalb sagt Christus:

-      „Wer mir nachfolgt, der hat das ewige Leben“

Und die Bhagavad Gita bestätigt es mit den Worten:

-      „Komm zu mir, als deinem alleinigen Zufluchtsort. Ich werde dich von allem Übel erlösen.“ (XVIII. 66.)

Um aber schliesslich auf die „Theosophische Gesellschaft“ in Deutschland zurückzukommen, so sollte dieselbe allerdings die äusserliche Repräsentation des geistigen Fortschrittes sein, ist es aber leider noch lange nicht. Diese Gesellschaft hat nicht, wie viele zu glauben scheinen, den Zweck, dem Publikum den Geist der göttlichen Selbsterkenntnis einzutrichtern, sondern dazu beizutragen, durch Wort und durch That der Idee der allgemeinen Menschenverbrüderung Eingang zu verschaffen. Da sich dem Verständnisse dieser Idee eine Menge Irrtümer in den Weg stellen, welche die Folge verkehrter Anschauungen über Natur und Menschheit sind, so hat es sich die „Theosophische Gesellschaft“ zur Aufgabe gemacht, sich nicht bloss auf ein einseitiges Studium der Religionen des Westens zu beschränken, sondern auch diejenigen des Ostens kennen zu lernen, und beide miteinander zu vergleichen.

Die wahre theosophische Vereinigung, von der jede äussere Gesellschaft nur ein fehlerhaftes Symbol sein kann, ist, wie die wahre alleinige Kirche, eine geistige Vereinigung, welche zu ihrem Bestehen keiner polizeilichen Genehmigung bedarf, nämlich eine Vereinigung derjenigen Menschengeister, welche Selbsterkenntnis besitzen, und es ist gerade dieser Geist der Wahrheit und Weisheit, welcher dieselben zu einem Ganzen vereint, wenn auch die betreffenden Menschen, in denen dieser Geist sich zu offenbaren strebt, einander persönlich unbekannt sind. Wo dieser innere Geist fehlt, da hat auch das Zusammentreten einer äusserlichen Gesellschaft keinen Zweck und ist nur ein Kinderspiel. Eine „Gesellschaft“, zu selbstsüchtigen Zwecken gegründet und von Menschen geleitet, die keine Selbsterkenntnis besitzen, kann wohl eine Gesellschaft für äussere Zwecke, aber keine „theosophische“ sein. Wir halten es deshalb für besser, ohne den mit dem öffentlichen Auftreten einer Gesellschaft verbundenen Pomp im geistigen Sinne zu wirken, als für irgend eine Gesellschaft Propaganda zu machen. Das Äussere muss das Resultat der inneren Thätigkeit sein. Wo der Keim, das Leben und die Nahrung vorhanden sind, da wächst die Pflanze von selbst. Möge daher jeder in sich selbst nach dem Geiste der Wahrheit suchen, und wenn er ihn gefunden hat, so hat er auch seinen richtigen Führer gefunden, und die äussere Vereinigung wird von selbst erfolgen, nach dem Gesetze des Geistes in der Natur.


(Lotusblüten, 1893, Band 1, S. 144-163)





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