Von Franz
Hartmann
„Non sit alterius qui suus esse
potest.“
(Paracelsus)
Jehosua war er ein „Lehrling“, dann ein
„Geselle“ aber noch kein Meister geworden. Der Lehrling arbeitet für sich
selbst, damit er etwas lernt; der Geselle hilft seinem Meister, aber der
Meister arbeitet für seine Kunden. Und wie im Äußeren so ist es im Innern.
Viele wollen als Lehrer auftreten, die noch nicht dazu berufen sind, da sie
noch nicht die Lehrlingsjahre durchgemacht haben; andere wollen für sich selbst
arbeiten, ohne dem Meister behilflich zu sein; aber wer ein richtiger Meister
ist, der arbeitet auch im Geistigen nicht für sich selbst, sondern für andere,
und indem er für andere arbeitet, erwirbt er sich das Recht, ein Meister zu
sein.
Wie aber könnte derjenige aufhören, für
sich selbst zu arbeiten, der noch an die Kette der Selbstheit gebunden ist?
Solange das Selbst vorhanden ist,
verlangt es seine Rechte. Jeder Besitz bringt Pflichten mit sich; wer mit dem
Selbst verbunden ist muss für dasselbe sorgen. Deshalb kann niemand ein
vollkommener Meister werden, als durch den Tod.
Aber der Tod, von welchem wir reden,
ist der mystische Tod, und nicht die Auflösung des irdischen Körpers. Wie
niemand die Freiheit dadurch gewinnen kann, dass er sich das Haus über dem
Kopfe abbrennt und damit zu Grunde geht, wohl aber dadurch, dass er das Haus
verlässt, so kann auch die erkenntnislose Seele keine Erkenntnis gewinnen,
indem ihre Behausung zerstört wird. Auch kann weder ein Mensch das Haus, noch
die Seele den Körper entbehren, solange sie dessen bedürfen; der obdachlose
Mensch sucht sich wieder ein Haus und die obdachlose Seele eine andere
Inkarnation.
Diese ewigen Wahrheiten wurden in den
ägyptischen Mysterien auf sinnbildliche Weise dargestellt. Der dritte Grad, der
Grad des Meisters wurde Melanephores genannt, und der Eingang dazu war durch
das „Tor des Todes“. Die Kammer, welche der Kandidat betrat, nachdem er durch
das Tor des Todes gegangen war, war mit Leichen angefüllt, und in der Mitte
desselben stand der Sarkophag des Osiris, mit Blut überströmt. Die Parakites,
d.h. die Leute, welche die Körper der Toten öffneten, und die Heroi, welche das
Einbalsamieren besorgten, waren bei ihrer Arbeit. Von dort ging es in ein
anderes Gemach, wo die schwarzgekleideten Melanephores den Kandidaten empfingen
und ihn vor den König brachten, welcher freundlich zu ihm sprach und ihm
abriet, tiefer in die Mysterien eindringen zu wollen, ihm dagegen den Rat gab,
mit dem, was er bereits erlangt hatte, zufrieden zu sein. Er lobte ihn wegen
seines Mutes und seiner Tugend und sagte ihm, dass er jetzt seine
Errungenschaften genießen und sich zur Ruhe setzen könne; dass er von allen von
nun an hoch geehrt würde, und zum Zeichen seiner Hochachtung nahm der König
seine eigene Krone uns setzte sie dem Kandidaten aufs Haupt.
Wenn der Kandidat Weisheit genug besaß,
um den Sinn dieser Ceremonie zu begreifen und die Probe zu bestehen, so warf er
die Krone zu Boden und trat mit dem Fusse darauf, um anzudeuten, dass seine
Weisheit und Tugenden nicht seinem eigenen Verdienste zuzuschreiben seien und
nicht sein eigen wären, sondern dass alles Gute nur Gott im Menschen gehört.
Da brachen denn alle Anwesenden in
einen Schrei der Entrüstung aus, und es fand eine andere Zeremonie statt,
welche andeutet, dass das Selbst im Menschen gänzlich und auf Nimmerwiederkehr
getötet werden muss, wenn Gott, der Herr seine Auferstehung in ihm feiern und
ihm allein herrschen soll. Aus ähnlichen Gründen wurden auch von jener
mystischen Gesellschaft, welche sich „Christen“ nannten, die Buchstaben
(I.N.R.I.) über dem Symbol des Kreuzes angebracht, welche bedeuten: In Nobis
Regnat Jesus; d.h.: „In uns herrscht Jesus“, das Licht der Welt. Wer dieses
sagen kann, ohne damit eine Lüge auszusprechen, der ist ein Christ.
Während der Kandidat durch das Tor des
Todes schritt, stand sein ganzes vergangenes Leben mit allen seinen großen
Ereignissen vor seiner Seele. Wie in einem Panorama lagen vor seinem Blick alle
seine guten und bösen Handlungen und Unterlassungen.*
(* Über diesen Vorgang wissen Manche, die dem Ertrinken
nahe waren und wieder zum Leben zurückgebracht wurden, aus Erfahrung zu berichten.
Vergl. F. Hartmann: „Buried alive", London 1896.)
Die Geister der Vergangenheit standen
vor ihm auf, die anklagenden Geister, welche ihn aufforderten, wieder zur Erde
zurückzukehren, um das Böse, welches er getan hatte, gut zu machen; die
richtenden Geister, welche ihn zurückhielten, unter dem Vorwande, dass er nicht
würdig sei, die Würde des Meisters zu empfangen, die rächenden Geister
vergangener Missetaten, welche von ihm den noch nicht bezahlten Tribut
verlangten. Wenn es ihm gelang, die Geister zu überwinden, dann erwachten die
himmlischen Kräfte in seinem Innern und führten ihn in den Himmel der Seligkeit
ein. Wem es aber nicht gelang, diese Geister zu überwinden, der musste während
des Restes seines natürlichen Lebens in der Halle des Todes bleiben, und seine
ganze Beschäftigung bestand darin, bei der Einbalsamierung und Bestattung der
Toten tätig zu sein.
Aber wir haben es hier nicht mit leeren
Symbolen und lügenhaften Zeremonien zu tun, sondern mit der diesen Symbolen zu
Grunde liegenden Wirklichkeit. Eine Zeremonie, welche äußerlich einen
innerlichen Vorgang darstellt, ist nur eine Komödie, wenn man den innerlichen
Vorgang, welchen sie vorstellen soll, gar nicht kennt. Es ist nicht viel damit
gedient, zu glauben, dass irgend Jemand das Haupt der Medusa abschlagen, oder
dass Herkules den vielköpfigen Cerberus überwunden hat, wenn der fromme
Gläubige nicht selber das Haupt der schönen Medusa, welche die Selbstsucht ist,
abhauen, und nicht durch die Kraft seines geistigen herkulischen Wollens selber
das vielköpfige Tier, welches den Eigendünkel darstellt, überwältigen kann. Wie
viele unserer modernen Kirchgänger wären gern bereit die Krone vom Haupte des
Königs zu nehmen, und sich selber aufs Haupt zu setzten, bilden sie sich ja
doch ein, gut und moralisch, gescheit, wohltätig, tugendhaft usw. gewesen zu
sein, und können es nicht fassen, dass das Selbst an sich ein Nichts und
wertlos ist und aus eigener Kraft gar nichts vollbringen kann, sondern dass
alle seine scheinbaren guten Eigenschaften nur Offenbarungen der Kraft des
Königs sind, dessen in Ewigkeit das Reich, die Kraft und die Herrlichkeit ist.
Der Mensch an sich besitzt nichts, das
er sein eigen nennen kann, und hat kein Recht, auf seine vermeintlichen
Besitztümer stolz zu sein; er hat sich nicht selber gemacht. Er kann ein großer
Redner sein, aber er hat den Geist nicht erfunden oder verfertigt, der durch
ihn spricht, noch sich selbst die Rednergabe gegeben. Alles, was er besitzt ist
ihm von Gott und der Natur geliehen, er kann es gebrauchen oder missbrauchen,
aber es gehört ihm nicht zu eigen, er muss es mit Zinsen wieder zurückgeben.
Sein Leben gehört nicht ihm, es ist eine Offenbarung des Lebens der großen
Natur in seiner individuellen Form, welche ohne dieses Leben nichts als eine
leere Maske, eine Erscheinung ist, und so ist es mit allen seinen natürlichen
Kräften, welche alle die Ausflüsse, Wirkungen oder Offenbarungen der Tätigkeit
dieses Lebens in seinem nur kurze Zeit bestehenden Organismus sind.
So ist es auch mit denjenigen Kräften,
welche „übernatürlich“ genannt werden, weil sie aus einer höheren Quelle als
der Zusammenwirkung physischer Naturkräfte entspringen. So ist z.B. die
geistige Selbsterkenntnis kein Erzeugnis des Denkens, sondern eine Offenbarung
der göttlichen Kraft der Weisheit, die im Denken des Menschen offenbar wird,
indem sie seinen Verstand durchdringt und erleuchtet. Der gelehrte Dummkopf hat
heutzutage ein blödsinniges Lächeln bereit, wenn von „Magie“ die Rede ist, und
dennoch lebt er selbst in einer Welt, die durch den magischen Zauber des
Willens in der Natur fortwährend aus dem Nichtoffenbaren in die Erscheinung
tritt, und er selbst ist ein Produkt dieses Willens. Was wäre die Welt ohne die
magische Kraft der Liebe, welche die Sonnen verbindet, ohne die magische Gewalt
der Gerechtigkeit, welche die Welt in Ordnung erhält und von welcher sich sogar
die „Wissenschaft“ beugen muss?
Aber auch die geistigen Kräfte sind
nicht die Erzeugnisse des Menschen und nicht sein Eigentum; sie sind die
Offenbarungen des Geist Gottes im Weltall, welche im einzelnen Menschen zu
Bewusstsein gelangen, und sie gehören nicht der individuellen Erscheinung,
sondern dem allgegenwärtigen Geiste an, ähnlich wie das Sonnenlicht nicht dem
Glase angehört, durch welches es scheint, wohl aber das Glas seine Helle durch
da Licht der Sonne erhält.
Wer ein richtiger Meister werden will,
muss sich nicht einbilden dass er ein Meister sei, sondern er muss den Meister
in seinem Inneren erkennen. Wird der Meister in ihm groß und nimmt der Meister
den Schüler ganz in Besitz, dann verschwindet der Schüler im Meister; dann gibt
es keinen Schüler oder Gesellen mehr; dann ist der Geselle ganz zum Meister
geworden. Wo der Mensch mit seinem Eigendünkel aufhört, da fängt Gott an; wo
das eigene Dasein aufhört da beginnt das Allgegenwärtige Dasein Gottes; wo das
beschränkte Selbstbewusstsein des Menschen Eins mit dem Allbewusstsein des
Unendlichen wird da gibt es keine an den Selbstwahn gebundene Unwissenheit
mehr, da geht der Mensch auf im Lichte der Freiheit und Allwissenheit.
Gott ist das Licht und die Selbstheit
in den Erscheinungen. Im Lichte ist Ruhe, aber die Schatten bekämpfen sich. Wer
zum Lichte kommen will, der muss vor allem seinen eigenen Schatten überwinden
und er überwindet ihn nur dadurch, dass das Licht in ihm offenbar wird. An dem
Eingange zum Tempel des Lichtes steht der Hüter der Schwelle, der Schatten,
welcher das Überbleibsel vorgehender Vorstellungen und Handlungen ist; er ist
das illusorische Selbst, welches in der Vergangenheit gebildet wurde; ein
Erzeugnis des Irrtums und der Sünde. Seine Heimat ist die Unterwelt, das Reich
der Nacht, der Unwissenheit und selbstgeschaffenen Qual; seine Umgebung sind
die Ausgeburten der tierischen Kräfte, welche durch seine Phantasie Form und
Gestalt und durch seinen Willen Leben erhielten. Man sagt sie seien nicht
„wirklich“, sondern nur Gebilde der Vorstellung; aber in demselben Sinne ist
alles, was wir von der Welt wissen, nicht “wirklich“, sondern nur in unserer
eigenen Vorstellung enthalten. Es gibt nur eine einzige Wirklichkeit, nämlich
die Wahrheit; alles, was nicht wahr ist, ist auch nicht wirklich, und in diesem
Sinne ist auch unser eigenes persönliches Dasein nicht wirklich, sondern nur
ein Gebilde der Phantasie; aber solange wir selbst das Phantasiegebilde sind,
erscheinen uns auch die uns umgebenden Phantasiegebilde als Wirklichkeit; Gott
allein ist die Wahrheit und kann die Wahrheit erkennen. Der moderne aufgeklärte
Theologe spricht „ein großes Wort gelassen aus“, wenn er sagt, dass es keine
Hölle gäbe und die Hölle nur in unserem eigenen Innern existiere. Allerdings
existiert nicht bloß die Hölle, sondern alles, was wir von der Welt wissen, nur
in unserer eigenen Vorstellung und Empfindung, ist aber deshalb
nichtsdestoweniger für uns wirklich vorhanden. Die Kräfte, welche in uns
wirken, wirken nach außen und bringen im Innern lebendige Bilder hervor, welche
sich der Seele objektiv darstellen und für die Seele ebenso wirklich vorhanden
sind, als die physischen Erscheinungen in der Natur für die sinnliche
Wahrnehmung. Die Teufel sowohl auch die Engel, welche der Mensch sich schafft,
sind für die Seele wirklich vorhanden, nur für den Geist Gottes sind sie ein
Nichts.
Das Selbst kann durch keine
theoretische Auseinandersetzung und durch keine bloße Zeremonie überwunden
werden, sondern nur durch die Tat. Deshalb konnte auch Jehosua durch keine
äußerliche Einweihung zu einem Meister gemacht werden, sondern er musste erst
für Andere arbeiten lernen, ehe er das Passwort erlangen konnte, welche das
Selbstbewusstsein der Unsterblichkeit ist.
(Lotusblüten, 1896, Band 7, S. 431-442,
„Bruchstücke aus den Mysterien“)