Hinweis: Ich habe in anderen Sprachen viele interessante Artikel verfasst,
die Sie in diesen Links lesen können: Teil 1 und Teil 2.

29.12.18

ZEITSCHRIFT: DAS THEOSOPHISCHE FORUM



Das Theosophische Forum (1930-1951) war das offizielle Organ der Deutschen Sektion von Theosophischen Gesellschaft von Katherine Tingley (das Hauptquartier in Pasadena Californa), und in diesen Jahren unter der Leitung von Dr. Gottfried von Purucker.

Sie können die Publikationen von 1930 in IAPSOP herunterladen (link)









4.11.18

WAS IST THEOSOPHIE?



Von Franz Hartmann

Das Wort „Theosophie“ ist aus den Worten Theos (Gott) und Sophia (Weisheit) zusammengesetzt und wird gewöhnlich als „Gottesweisheit“ übersetzt. Um nun zu begreifen, was mit der Bezeichnung „Gottesweisheit“ gemeint ist, wäre es vor allem nötig, die Bezeichnung „Gott“ zu definieren. Da aber Gott für den Menschen ein Nichts ist, solange der Mensch selbst in göttlicher Beziehung ein Nichts ist, so ist auch der Begriff Gottes über alle Verstandesspekulationen erhaben und für die materielle Auffassung unerreichbar. Solange der Mensch Gott nicht in sich selber fühlt, kann er ihn auch nicht erfassen. Solange er von „Gott“ nichts weist, ist ihm auch der Sinn des Wortes „Gottesweisheit“ unerfassbar, und er betrachtet dieselbe als die Weisheit eines Wesens, das er nicht kennt und das ihn deshalb nichts angeht. Aus diesem Grunde ward der Name „Theosophie“ ein Gegenstand des Spottes derjenigen, welche, da sie selbst keine geistige Selbsterkenntnis besaßen, auch die Möglichkeit einer solchen Erkenntnis verleugneten. Über die Frage: was man unter „Theosophie“ versteht, ist an anderen Stellen schon vieles geschrieben worden, ohne die gewünschte Aufklärung zu bringen, und dennoch scheint uns die Beantwortung einfach zu sein:

„Gottesweisheit“ oder mit anderen Worten „die höchste Weisheit“ ist jedenfalls diejenige, durch welche der Mensch zu seinem höchsten geistigen Ziele gelangen, d. h. durch welche er das höchste Ideal in sich selber verwirklichen kann. Dieses Ziel kann er nur durch Erfüllung des Gesetzes erlangen, und deshalb besteht seine höchste Weisheit darin, das höchste Gesetz des geistigen Menschen zu befolgen und es in sich selbst zum Ausdruck und zur Offenbarung zu bringen. Um aber dieses Gesetz, welches die Grundlage des menschlichen Daseins und der ganzen Natur bildet, befolgen zu können, muss er dasselbe kennen lernen, und da die Tätigkeit dieses Gesetzes in seiner höchsten Wirkungssphäre eine geistige ist, so handelt es sich bei der Erlangung seiner Erkenntnis nicht bloß um eine auf äußere Sinneswahrnehmungen gegründete Theorie, sondern um eine innere Entfaltung und Vervollkommnung der eigenen Geisteskraft. Es ist somit diese Selbsterkenntnis das Ergebnis eigenen Wachstums des geistigen Menschen, ein inneres Erwachen zu einem höheren Grade des Selbstgefühls und Selbstbewusstseins, wodurch der Mensch sich über seine Tiernatur sowohl, als auch über den grübelnden, im Finstern tappenden Rationalismus erhebt und sich durch die Verwirklichung eines höheren Ideales in sich selbst seiner wahren Menschennatur und Würde bewusst wird.


Die praktische Theosophie ist deshalb nichts anderes als die geistige Selbsterkenntnis des Menschen. Sie ist kein Gegenstand der auf der Beobachtung äußerer Erscheinungen beruhenden Wissenschaft und kann selbstverständlich nur das Eigentum desjenigen Menschen sein, in welchem diese Erkenntnis zur eigenen Kraft geworden ist. Solange der Mensch von seinen tierischen Leidenschaften beherrscht wird, oder solange sein „Wissen“ bloß in Meinungen besteht, welche auf Trugschlüssen oder Vorurteilen beruhen, oder die er deshalb glaubt, weil sie ihm von anderen gelehrt wurden, ist er auch nur ein Sklave von Leidenschaften und Meinungen, und seine Erkenntnis ist nicht diejenige, welche durch das eigene Erkennen der Wahrheit entsteht, und wodurch er zur göttlichen Freiheit gelangt.

Unter diesen Umständen kann es nicht die Aufgabe der „Theosophie“ sein, von irgend jemand einen blinden Glauben an irgend eine Lehre, welche für etwas „Neues“ gehalten werden dürfte, zu verlangen; auch kann kein Mensch einen anderen, sondern nur jeder sich selbst zum „Theosophen“ machen; denn das geistige Licht muss in dem eigenen Innern des Menschen erwachen, wenn es sein Inneres erleuchten soll. Dasjenige aber, was der Erlangung der wahren Erkenntnis im Wege steht, ist einerseits die Selbstsucht die Leidenschaften und alles, was aus der Tiernatur des Menschen entspringt und ihn hindert, sich über dieselbe zu erheben, andererseits sind es die Irrtümer, welche durch das Nichterkennen innerer Ursachen und die auf falscher Beurteilung äußerer Erscheinungen beruhenden Trugschlüsse entstanden sind. Vor allem aber ist der Erkenntnis der Wahrheit die falsche und bloß äußerliche Auslegung religiöser Allegorien im Wege. Was wir deshalb beabsichtigen, ist, soweit es in unseren Kräften steht, denjenigen, welche nach einem wirklichen geistigen Fortschritt trachten, ein klares Bild über die innere höhere Menschennatur zu verschaffen und ihnen behilflich zu sein, sich aus den Banden der Selbstsucht und den Irrtümern einer falschen Philosophie zu befreien.

Um vollkommene Gewissheit über die wahre geistige Natur des Menschen, die Veredlung, welcher der Mensch fähig ist, und seine magischen (geistigen) Kräfte zu erlangen, dazu gibt es nur einen einzigen Weg, nämlich dasjenige selbst zu sein, was man zu erkennen wünscht. Nur der Tugendhafte kann die Tugend, der Weise die Weisheit, der Mächtige die Macht kennen; um aber den Weg zur Ausübung der Theorie zu finden, dazu ist es vorerst nötig, die richtige Theorie zu suchen.

Es gibt zwei Wege, auf denen wir zwar noch keine Gewissheit, aber dennoch eine zuverlässige Anschauung der Dinge, welche sich der sinnlichen Wahrnehmung entziehen, erlangen können.

Der erste Weg ist derjenige der philosophischen Spekulation, wobei nicht nur die im gewöhnlichen Leben vorkommenden äußeren Naturerscheinungen, sondern auch die sogen: mystischen Ereignisse, die Tatsachen des Spiritismus, Okkultismus, Hypnotismus, Magnetismus u. s. w. in Betracht genommen werden müssen. Insofern dieses Philosophieren aber auf Schlussfolgerungen beruht, welche sich auf Tatsachen beziehen, die selbst noch der Erklärung bedürfen, ist dieser Weg auch nicht sicher und führt nur selten zum Ziele, sondern leitet meistens in ein Labyrinth von verkehrten Meinungen und häufig zum Aberglauben oder zur Narrheit, vorausgesetzt, dass man nicht durch fortwährende Enttäuschungen selbst zu der Überzeugung gelangt, dass die zur Erklärung mystischer Phänomene gewöhnlich angegebene Theorie nicht die richtige ist und dass man sich selber betrogen hat.

Der andere Weg ist, dass man dasjenige, was geistig erleuchtete Menschen, wie man sie in allen Nationen sinden kann, über das wahre Wesen des Menschen und über die geheimnisvollen Erscheinungen in der Natur gelehrt haben, vom geistigen Standpunkte ausgehend prüft, ihre Lehren miteinander vergleicht und sich dadurch selbst befähigt, eine höhere Weltanschauung und Erkenntnis zu erlangen. Hierbei handelt es sich keineswegs um einen blinden „Glauben“, sondern nur darum, dass man dasjenige, was man kennen lernen will, nicht schon von vornherein als ein „Nichtmögliches“ verwirft. Wer sich weigert, an das Vorhandensein des Gegenstandes, den er untersuchen will, zu glauben, der wird sich auch nicht von dessen Eigenschaften überzeugen können. Wer in seinem Eigendünkel dasjenige verwirft, was er nicht schon zu wissen glaubt, oder was nicht mit seinen Vorurteilen übereinstimmt der gleicht einem Menschen, welcher ein vor ihm stehendes Ding nicht sehen kann, weil er absichtlich seine Augen davor verschließt.

Die theoretische Theosophie besteht also darin, die Lehren der Weisen aller Nationen, der indischen Lehrer, der christlichen Mystiker der Adepten und Heiligen miteinander zu vergleichen, den Kern der Wahrheit, welcher in allen Systemen enthalten ist, zu finden und zu untersuchen, inwiefern diese Lehren zur Erklärung mystischer oder nichtmystischer Tatsachen dienen können. Sie befasst sich weder mit „wissenschaftlichen“ Spekulationen, denen keine Wahrheit zu Grunde liegt, noch mit sogenannten „Ofsenbarungen aus dem Jenseits“, sondern es ist ihr nur darum zu thun, über die wahre Natur des Menschen und dessen Stellung im Weltall ein Licht zu verbreiten, von dem jeder vorurteilsfreie Mensch aus eigener innerer Überzeugung erkennen muss, dass es die Wahrheit ist.


(Sphinx, May 1892, Band 13, S. 197-199)





3.11.18

ZWECK DER THEOSOPHISCHEN LEHREN



Von Annie Besant

Es ist nicht möglich, in einem kurzgehaltenen Vortrage alle die Gründe anzugeben, weshalb jedermann darnach trachten sollte, ein Theosoph zu werden; aber die Erfahrungen eines einzelnen Menschen können unter Umständen einem anderen von Nutzen sein, und wir wollen einen Versuch machen, die Gedankenwege zu beschreiben, auf denen der Sucher nach der Wahrheit wandeln kann, um zu seinem Ziele zu gelangen. Das, was ihn zuerst anzieht, ist dasjenige, was seinem gewohnten Gedankengange am meisten verwandt ist; denn die theosophischen Lehren umfassen alles, das für das Menschengeschlecht und dessen Fortschritt von Interesse ist, und werfen auf jeden solchen Gegenstand ein neues Licht. Deshalb kommt dieses Licht zu jedem in seiner Art und sagt zu ihm:

-      „Komm mit mir und ich will dir Klarheit geben, wo für dich jetzt noch Dunkelheit ist."

Glücklich ist derjenige, welcher dieser inneren Stimme Gehör schenkt und dessen Geistesauge die Morgenröte des kommenden Tages erblickt.

Was mich zuerst zu den theosophischen Lehren anzog, war, dass sie mir ein ganz neues Feld eröffneten in meinen Untersuchungen über die schwierigen Rätsel des Lebens. Lange Jahre hatte ich diese Rätsel zu lösen versucht, konnte aber die Lösung nicht finden, noch hatte ich Hoffnung, dass ich sie je finden würde. Eine Menge von Dingen war da, die für das rationelle Verständnis geradezu unerklärbar waren. Alltägliche Erfahrungen, die sich immer wiederholten, wurden von der aufgeklärten Wissenschaft mit stiller Verachtung behandelt oder als „Aberglaube“ klassifiziert; das Zeugnis von Tausenden wurde als wertlos zurückgewiesen, weil es sich nicht mit den neuesten Ansichten der modernen Wissenschaft über gewisse Dinge vereinbaren liess, und immer dringender trat an mich die Frage heran:

-      „Wie lässt sich eine moralische Entwicklung und eine geistige Evolution durch eine bloss mechanische Thätigkeit im Universum erklären; in einem Weltall, in welchem nichts vorhanden ist, das einen Beweggrund zu einem Streben nach dem Höheren und Idealen bilden könnte; eine Welt, in der nichts ist, das geistige und moralische Errungenschaften in sich aufnehmen und von Generation zu Generation fortpflanzen könnte?“

Auf alle diese Fragen giebt uns weder die Wissenschaft, noch die Kirche, noch die spekulative Philosophie eine zufriedenstellende Antwort. Die theosophischen Lehren aber geben uns eine rationelle Erklärung über die Konstitution des Universums und alle seine Erscheinungen, die sich nach dem Weltgesetze bewegen; sie erklären geheimnisvolle Thatsachen, anstatt sie zu ignorieren, und sie überheben uns der Notwendigkeit, die grosse Mehrzahl der Menschen als Narren oder Spitzbuben zu betrachten und dabei zu glauben, dass die ganze Weisheit der Welt in den Köpfen von einigen Professoren konzentriert sei, deren erlauchte Gegenwart durch keine vorhergegangene geistige Evolution erklärbar ist, wie auch alle Anstrengungen nach ferneren geistigen Errungenschaften, im Angesichte der Vernichtung am Ende des menschlichen Daseins, auch weiter keinen Zweck haben können, als mit dem Körper ins Grab zu versinken. Eine so traurige Philosophie mag denjenigen genügen, welche kein Wahrheitsgefühl im Herzen tragen; mir genügte sie nicht. Die theosophischen Lehren dagegen zeigen uns das ganze Weltall als aus einer Grundsubstanz entsprungen, welche wesentlich Leben und Bewusstsein ist, das sich in den verschiedenen daraus krystallisierenden Erscheinungsformen je nach dem Grade der Entwicklung derselben offenbart. Wir sehen deshalb das ganze objektive Universum als eine unzählige Menge von verschiedenartigen Lebewesen, die alle insgesamt Formen sind, in denen sich das Allgemeinleben offenbart; die Synthese derselben bildet eine höhere Form von Lebewesen, und die Auflösung der Formen ist der Tod der Formen, nicht aber die Vernichtung der Wesenheit, deren Charakter in ihnen zum Ausdruck kam.

Was wir das objektive Weltall nennen und welches zu uns in Beziehung steht durch unsere fünf Sinne, ist nur eine einzige von den verschiedenen Daseinsstufen und Erscheinungen, welche in unserer Daseinssphäre ausserordentlich, gesetzlos und unbegreiflich erscheinen, welche zu uns kommen von anderen Sphären des Daseins, den Gesetzen ihrer Sphäre gehorchend, und die daher, wenn richtig verstanden, ebenso natürlich als die Erscheinungen der physischen Ebene sind. So sind z. B. die Vorgänge, welche man „Hellsehen“, „Hellhören“ u. dergl. nennt, nicht, wie manche Unwissende behaupten, blosse „Einbildungen“ oder „Schwindeleien“, sondern gesetzmässige Funktionen gewisser innerer Sinne, welche in jedem Menschen enthalten aber nicht in allen ausgebildet sind, und die derjenigen inneren Welt angehören, welche wir als die „Astralebene“ bezeichnen. Zu dieser gehören Sinne, welche unseren physischen Sinnen verwandt, aber dennoch von diesen verschieden sind, und sie finden sich besonders entwickelt in „sensitiven“ Personen, oder treten in Thätigkeit während mesmerischer, hypnotischer oder somnambulischer Zustände, oder in gewissen Krankheiten, in denen die Thätigkeit des äusseren Körpers herabgestimmt ist. Diese inneren Sinne können aber auch in ganz gesunden Personen absichtlich zur Eröffnung gebracht und gebraucht werden, ohne dass das äussere Bewusstsein deshalb beeinträchtigt wird.

Alle solche Erscheinungen, Hellsehen, Hören auf weite Ferne, „zweites Gesicht“, Visionen, Gedankenlesen, prophetische Träume, Erscheinungen u. dgl. gehören der Astralebene an, und der Narr ist nicht derjenige, welcher diese Thatsachen untersucht und eine vernünftige Erklärung dafür findet, sondern derjenige, welcher sie ableugnet, ohne etwas davon gesehen oder erfahren zu haben oder zu wissen. Sie sind alle die gesetzmässigen Offenbarungen von Kräften, die in der Natur existieren, und äussern sich als Erscheinungen des Allgemeinlebens auf einer höheren oder von der unsrigen verschiedenen Daseinsstufe. Sie können beobachtet, studiert und sogar hervorgebracht werden, und das Zeugnis von intelligenten Personen, welche solche Fähigkeiten ausgebildet haben, ist ebenso viel wert als das Zeugnis derjenigen, die bloss physische Wahrnehmungen haben, in Bezug auf physische, für jedermann sichtbare Dinge, ist.

Die theosophischen Lehren geben uns eine rationelle Erklärung von der Existenz von anderen Daseinssphären, welche (ebenso wie ein mathematisches Problem) den physischen Sinnen nicht wahrnehmbar, aber trotzdem logisch nachweisbar ist, und jede dieser Daseinsebenen bildet in Bezug auf ihre Eigenschaften und die in ihr bestehende Lebensthätigkeit eine für sich bestehende Welt. Indem wir in unserer Forschung tiefer dringen, finden wir mit Erstaunen und Bewunderung, dass vieles, was uns in der Weltgeschichte früher ein unerklärbares Rätsel war, sich jetzt von selber erklärt; wir fangen an, das Menschengeschlecht höher zu achten, wir ahnen die Lösung der Fragen in Bezug auf die wunderbare Konstitution der Menschennatur, wir sehen, dass im ganzen Weltall Leben pulsiert, dass in jedem Teile der Natur Bewusstsein und Intelligenz thätig ist, und dass nur unsere eigene Unwissenheit schuld daran war, dass wir die Welt für öde und leer hielten und den darin waltenden Geist nicht erkannten.

Jetzt begreifen wir, dass der Mensch fähig ist, Wahrnehmungskräfte zu entwickeln, welche ihn befähigen, jede Stufe des Daseins im Weltall kennen zu lernen, und von jeder dieselbe, wenn nicht noch mehr Gewissheit zu erlangen, als der äussere Mensch von äusseren Dingen im physischen Dasein besitzt. So leitet die Theosophie den Schüler an der Hand der wissenschaftlichen Erkenntnis zu immer höheren Sphären des Denkens und der geistigen Wahrnehmung; die Wälle, welche ihm vorher den Weg verschlossen, fallen nieder, und wie sein Blick klarer wird, so erweitert sich sein Horizont, bis er von nichts mehr begrenzt wird, das man „unerkennbar“ nennen könnte, wenn auch noch vieles unerkannt ist.

Aber das "Wissen allein macht den Menschen nicht glücklich, es ist nicht alles. Würden die theosophischen Lehren bloss zur Befriedigung des Wissensdranges dienen, so hätten sie für mich wenig Interesse gehabt. Der grösste Teil meines Lebens und mein ganzes Herz war der Besserung sozialer Übelstände gewidmet. Ich suchte den Armen ihre Bürde zu erleichtern, den Menschen Gleichberechtigung zur Arbeit und zum Verdienste zu verschaffen. Ich sah die nächstliegenden Ursachen, welche schuld daran sind, dass ein Teil der Menschheit in Reichtum schwelgt, während ein anderer Teil in Armut darbt; ich strengte mich an, die Kenntnis dieser Ursachen in der Welt zu verbreiten, damit man dieselben vermeiden und die sozialen Übel zur Heilung bringen könnte. Die Propaganda, welche ich und andere Gleichgesinnte machten, blieb, wie bekannt, nicht ohne Erfolg; allein, da war stets ein Gedanke, der mich nicht verliess, eine Frage, für die ich die Antwort nicht finden konnte:

-      „Wenn alles, was ich anstrebe, gelungen sein wird,“ fragte ich mich, „wenn in der Welt Gerechtigkeit statt Ungerechtigkeit die Grundlage menschlichen Thuns bildet, wenn niemand mehr müssig geht und jeder nach seiner Bequemlichkeit leben kann, – was dann? – Werden nicht die alten Übel in irgend einer neuen Form wieder erscheinen? Wird nicht die menschliche Leidenschaft, Neid, Gier und Selbstsucht von neuem den sozialen Frieden untergraben, und das soziale Gleichgewicht wieder zerstören?“

Während meiner öffentlichen Vorträge sah ich fast immer, dass das Gefühl, welches meine Zuhörer beherrschte, nicht die Liebe war, sondern der Hass; dass der Wunsch, die erlittenen Ungerechtigkeiten zu rächen, stärker war, als die Liebe zur Gerechtigkeit; dass da immer ein Kampf zwischen Klassen und Klassen, von Nationen gegen Nationen zugrunde lag; aber von einem wahren selbstlosen Wunsche nach dem Wohle von allen ohne Ausnahme war keine Rede. Als dieses Gefühl sich in meiner Seele wiederspiegelte, da wusste ich, dass eine höhere Magie als mein Scharfsinn und meine Beredsamkeit nötig sei, um die Wurzel des Übels auszureissen; dass es sich weniger darum handle, äussere soziale Verhältnisse abzuändern, als vielmehr die Menschen selbst, die in diesen Verhältnissen lebten, umzugestalten.

Das verzweiflungsvolle Elend der Armen, die herzzerreissende Erniedrigung der Prostituierten, das unerträgliche Bewusstsein der Hilflosigkeit und Ohnmacht, diese über die ganze Welt verbreiteten Übel abzuschaffen oder erfolgreich zu bekämpfen, alles dies nagt an dem Herzen derjenigen, welche gewillt sind, selbst ihr Leben dahinzugehen, wenn sie dadurch den Armen, den Auswürfling und den Verbrecher retten könnten.

Nacht war es in mir, kein Stern der Hoffnung leuchtete am Firmament. Unter diesen Umständen kam die Theosophie, belebte mich wieder mit Hoffnung und zeigte mir den sicheren Weg zur Erlösung der ganzen Welt. Die theosophischen Lehren erklärten mir die tiefer liegenden Ursachen dieser Übel und die Art, wie dieselben vermieden werden können. Sie bewiesen mir die Notwendigkeit des Leidens und den Nutzen desselben. Sie sprachen von einem Wege der völligen Selbstaufopferung, von völliger Ergebung, welchen diejenigen wandeln könnten, die mehr von Liebe zur Menschheit als von Furcht vor Leiden beseelt waren, und das Wohl des Ganzen mehr suchten als das eigene Selbst.

In jenen dunkeln Tagen war es mir schrecklich, zu fühlen, dass es vergebens war, den Erwachsenen Hoffnung einzusprechen, zu wissen, dass kein Wechsel von Verhältnissen eintreten könne, welcher ihnen Entschädigung für das erlittene Unrecht böte oder ihnen ein der Menschenwürde passenderes neues Leben eröffnen könnte. Jetzt aber enthüllten mir die neuen Lehren die Vergangenheit des Menschengeschlechts, erschlossen mir das Verständnis der Gegenwart und zeigten mir eine Zukunft von Hoffnung erfüllt; denn sie bewiesen mir, dass der Mensch ein unsterbliches Leben ist, in eine menschliche Form gehüllt, und dass dieses Leben, welches sein Geist, seine Intelligenz, sein Selbstbewusstsein ist, deshalb eine sterbliche Hülle von Fleisch angenommen habe, um darin Erfahrungen zu sammeln und zur Selbsterkenntnis zu gelangen. Sie zeigten mir, dass, wenn dem Menschen die Wohnung gekündet wird und er ausziehen muss aus seinem fleischlichen Leibe, er nach einer Periode der Ruhe wieder eine neue ähnliche Wohnung bezieht; dass dieser Vorgang immer und immer wiederholt wird und dass der Fleiss des Schülers in der Sammlung seiner Erfahrungen und in dem Nutzen, den er aus ihnen zieht, seinen Fortschritt bedingt, dass, um völlige Erkenntnis zu erlangen und zur Vollkommenheit emporzuwachsen, jeder alle Verhältnisse, sowohl Armut als Reichtum, Bequemlichkeit und Mühe, Kampf und Frieden, durch eigene Erfahrung kennen lernen muss, dass jede eigene Erfahrung nur unter gewissen Verhältnissen gemacht werden kann und dass der Weise fern davon sich über die Verhältnisse, in denen er zu leben gezwungen ist, aus guten Gründen freut, weil er in allem mehr die Erkenntnis, als den Genuss sucht.

Wie könnten auch Reichtum, Luxus und Besitz alles Wünschenswerten dem Menschen Ausdauer, Geduld, Selbstlosigkeit lehren? Wie könnte ihm der Müssiggang zum Erlernen von Festigkeit, zur Erlangung von Kraft verhelfen? Dennoch ist ohne diese Tugenden der Mensch nichts als ein schwächlicher, kraftloser Organismus, ohne sie kann er sich nicht zum selbstbewussten und selbstvertrauenden Helden erheben. Die kostbarsten Blüten der menschlichen Tugenden sind nur aufgeblühte Knospen von Leiden und Sorgen; der Keim eines langertragenen Leidens bringt als Frucht die alles überwindende Kraft; die Knospe des Leidens erblüht als die Blume des Mitgefühls; die Knospe der Entbehrung erblüht als Selbstlosigkeit; Armut lehrt Selbstaufopferung und die erduldete Verachtung Barmherzigkeit. Niemand beklagt sich über eine Anstrengung, welche auf Erden grossen Lohn zur Folge hat, und wer das Rätsel des Lebens kennt, der begrüsst mit Freuden jeden Umstand, der ihn der göttlichen Selbsterkenntnis näher bringt. Wenn wir daher sehen, dass ein menschliches Wesen in Schmerzen sich windet, so wissen wir auch, dass ein heiliges Ding dadurch geboren wird, und wenn auch unser menschliches Mitgefühl seine ganze Sympathie dem Leidenden zuwendet, so wissen wir doch im Grunde des Herzens mit Ruhe und Frieden, dass der Tag der Prüfung vorüber geht und das neuerwachende Leben beständig ist, dass der Kummer verschwindet und die durch seine Überwindung erworbene Kraft verbleibt. So erlangt der Mensch seine natürliche Grösse, so schreitet das Menschengeschlecht nach seinem Ziel.

Es ist nicht der geringste der Verdienste der theosophischen Weisheit, dass sie dem menschlichen Instinkte, der immer sich für die Menschheit zu opfern drängt, eine rationelle Berechtigung giebt. Die Frage cuibono? klang in damaligen Zeiten wie eine Begräbnisglocke aller Hoffnungen, als man noch zu uns von einem Ende der Welt, von einem Verschwinden des Menschengeschlechts sprechen konnte; aber seit wir die Lehre von der Reinkarnation als Wahrheit erkannt haben, sehen wir auch, dass keine Anstrengung zum Besseren vergebens ist, dass jede Überwindung eine Stufe bildet, auf der wir zu einem höheren Grade der Evolution aufsteigen, und dass das Selbstbewusstsein eines jeden Mitgliedes der menschlichen Gesellschaft sein Eigentum ist, das von niemandem angetastet werden kann, sondern in jedem Erdenleben reichhaltiger wird je nach dem Masse der Erfahrungen, die er gemacht, und dem Nutzen, den er daraus gezogen hat, und dass er schliesslich alles Erlangte geniessen wird, wenn er zur geistigen Reife gekommen sein wird.

Auch erkennen wir, dass diese Evolution genau nach dem Gesetze des Karma vor sich geht, d. h. nach dem Gesetze der Ursache und Wirkung in allen Stufen des Daseins; dass es für uns von den Folgen unseres Thuns kein Entrinnen giebt; dass wir das, was wir gesäet haben, auch selbst ernten müssen, und alles dies giebt unseren Schritten den festen Halt der Überzeugung; denn wir wissen, dass es im Himmel keine Günstlinge und Schmarotzer giebt, und dass jeder nicht mehr und nicht weniger erhält, als was er sich selber verdient.

Schliesslich bildet die Erkenntnis der Wahrheit, wie die Theosophie sie lehrt, die Grundlage zur Erkenntnis der Einheit des ganzen Menschengeschlechts und der daraus folgenden Verbrüderung aller Nationen. Jeder einzelne ist ein Baustein im ganzen Gebäude der Menschheit, keiner steht allein. Wer sich selbst überwindet, stärket das Ganze, jeder Schritt nach oben hilft zur Erhebung des ganzen Geschlechts.


(Lotusblüten, 1893, Band 1, S. 233-248)





ÜBER DEN FORTSCHRITT DER THEOSOPHISCHEN BEWEGUNG IN EUROPA



Von Franz Hartmann

Vor allem erlauben wir uns zu bemerken, dass, wenn wir über den Fortschritt der theosophischen Bewegung in Europa zu sprechen beabsichtigen, wir dabei keineswegs die Ausbreitung der „Theosophischen Gesellschaft“ im Auge haben, sondern den Fortschritt der Menschheit in der Erkenntnis der Wahrheit Theosophie im wahren Sinne des Wortes ist die Erkenntnis der Wahrheit, die Anerkennung der wahren Menschennatur und ihrer Rechte. Die „Theosophische Gesellschaft“ dagegen ist nichts anderes als ein Verein, welcher sich die Beförderung dieser Erkenntnis, nach welcher die ganze Menschheit ringt, zur Aufgabe gemacht hat, und um ein wirklicher Theosoph zu sein, d. h. Selbsterkenntnis zu erlangen, ist es nicht nötig, irgend einem äusseren Vereine anzugehören. Wer das nicht innerlich ist, was er äusserlich vorstellt, der ist nichts als ein Schauspieler, welcher Komödie spielt; diejenigen aber, welche nach Wahrheit im Geiste der Wahrheit streben, sind durch diesen Geist geistig vereint, wenn sie auch äusserlich noch so sehr von einander verschieden sind.

Wir könnten statt „theosophische Bewegung“ die Bezeichnung „Bewegung des Fortschrittes, der Freiheit, der Aufklärung, der Civilisation“ u. dgl. benützen; allein alle diese Bezeichnungen sind zweideutig und werden häufig auf Dinge angewendet, die geradezu dem wirklichen Fortschritt, der wahren Freiheit usw. entgegengesetzt sind. Für die Bezeichnung „Selbsterkenntnis“, d. h. Erkenntnis der Hoheit und Freiheit der wahren Menschennatur, dürfte kaum ein Missverständnis zu befürchten sein. Sie wird entweder richtig oder garnicht verstanden. Diese erhabene Selbsterkenntnis ist die Wurzel, aus welcher aller geistige Fortschritt, alle wahre Freiheit und wirkliche Kultur entspringen; sie ist der Fels, auf welchem die wahre Religion im Menschenherzen beruht, und ohne welche die Wissenschaft keine Festigkeit hat. Wer irgend ein grosses, erhabenes, uneigennütziges Werk vollbringt, der handelt im Geiste der Theosophie; denn jede edle That, welche die Welt beglückt und keinen anderen Beweggrund hat, als Gutes zu thun, entspringt dem höheren Selbstbewusstsein, in welchem der Mensch die Göttlichkeit seiner Natur, wenn auch nicht völlig erkennt, so doch fühlt.

Um daher den Fortschritt der theosophischen Bewegung in Europa zu verfolgen, müssten wir alle die grossen und edlen Thaten, welche daselbst in den verschiedenen Gebieten der Politik, der Religion, Wissenschaft, Humanität, Rechtspflege u. s. f. während der letzten Jahrzehnte ausgeführt wurden, untersuchen, und um dies zu thun, müssten wir auch die Motive kennen, welche denselben zugrunde lagen, und da würde es sich vielleicht zeigen, dass manche That, welche von der Mit- und Nachwelt angestaunt wird, nicht aus Liebe zum Besten der Menschheit, sondern aus persönlichem oder nationalem Interesse, aus Eitelkeit, Herrschsucht u. dgl. entsprang. Da es aber nicht unsere Sache ist, über die Gewissenszustände von Personen ein Urteil zu sprechen, so müssen wir auf ein tieferes Eingehen in diesen Gegenstand verzichten, und uns an äusserlich auftretende Erscheinungen halten.

Hier begegnen wir nun in der Litteratur einem bedeutenden Umschwung in Bezug auf Weltanschauung. Die Affenphilosophie, welche vor zwanzig Jahren noch überall Mode war, ist vom Markte verschwunden und der Affenvogt regiert heutzutage nur mehr in den Kneipen und in den Köpfen der untersten Klassen der Gesellschaft. Noch ist es nicht lange her, dass man von „Geist“, „Gemüt“ und „Seele“ in den Kreisen der „Aufgeklärten“ nicht sprechen konnte, ohne für einen Schwärmer gehalten zu werden. Tugend, Gerechtigkeit, Selbstbewusstsein, Ehrlichkeit und Geduld waren die Resultate der körperlichen Ernährung, die Entwicklungsprodukte von etwas Höherem aus etwas Niedrigem, ohne die Gegenwart eines höheren Prinzips, an dessen Offenbarwerden zu glauben ein Unsinn war. Das Leben selbst war ein Resultat zufällig zusammenwirkender lebloser mechanischer Kräfte, ohne Lebensprinzip, das Denken eine mechanische Thätigkeit des Gehirns ohne irgend 'einen Einfluss von Ideen, und der Glaube an eine göttliche Kraft, aus der alles, was da ist, seinen Ursprung nahm, wurde als ein Aberglaube betrachtet, der nur noch in der Rumpelkammer mittelalterlicher Verrücktheiten einen Platz hatte. Ludwig Büchner war damals das angebetete goldene Kalb der deutschen Philosophie; aber der Zeitgeist war stärker als seine Philosophie, von der es sich übrigens jetzt herausstellt, dass sie nicht so schlimm gemeint war, als sie aufgefasst wurde. Man konnte sich nicht in die Länge damit begnügen, das Nichts anzubeten, man konnte die materialistischen Theorien, in denen kein Funke von Wahrheit war, nicht mit dem Wahrheitsgefühl im Herzen in Einklang bringen; selbst die Vorstellung schreckte zurück vor den Resultaten einer Weltanschauung, in welcher alles auf blindem Zufall beruht. Man suchte tiefer und man verfiel auf den „Hypnotismus“, die „Suggestion“ und „Telepathie“, welche in Deutschland in Karl Du Prel einen gewandten Verteidiger fanden.

Dieser „Hypnotismus“ usw. haben dem Eigendünkel der Wissenschaft, welcher sich damals auf dem Gipfelpunkte alles möglichen Wissens angelangt zu sein wähnte, einen gewaltigen Strich durch die Rechnung gemacht. Allerdings waren diese Dinge schon längst den alten Philosophen, wenn auch unter anderen und besseren Namen bekannt, finden sich in den Büchern von Theophrastus Paracelsus, den Schriften der Rosenkreuzer usw. beschrieben, und sind in der That nur die Anfangsgründe der den Indiern so ausführlich bekannten „geheimen“ Naturwissenschaft. Aber für unsere Gelehrten waren sie etwas Niedagewesenes, Unerhörtes und Unglaubliches, man taufte sie mit unpassenden Namen, welche davon Zeugnis geben, dass man ihr Wesen nicht erkennt, und schmückt sich nun mit den Federn, welche Paracelsus, Cagliostro und Jakob Boehme gehören. Aber es naht die Zeit, wo man begreifen wird, dass die Welt nicht durch eine hypnotische Autosuggestion entstanden ist, dass das göttliche Selbstbewusstsein dem Menschen nicht „einhypnotisiert“ werden kann, und dass im Herzen des Universums, wie auch in der Seele das Menschen eine höhere Kraft waltet, die sich die ganze Natur unterwerfen kann, sobald sie offenbar wird, nämlich die göttliche Selbsterkenntnis, die göttliche Weisheit oder „Theosophie“.

Wenn es auf dieser Welt etwas im Grunde Falsches und Verlogenes giebt, so ist dies die Weltgeschichte, wie sie heutzutage die Grundlage des Wissens des „aufgeklärten Kulturmenschen“ bildet. Wie könnte es auch anders sein, da sie von Personen geschrieben ist, welche weder die Gesetze des Karma, das die Menschen zum Handeln treibt, noch von dem Ursprung des Daseins und der zu dessen Erhaltung nötigen allgegenwärtigen Kraft Kenntnis haben?

Von den 18,618,732 Jahren, welche seit dem Erscheinen von Vaivasvatu Manu, unseres Stammvaters, vergangen sind, kennt die moderne Weltgeschichte kaum einen Zeitraum von 2000 Jahren und auch von diesen weiss sie nichts, das von wesentlicher Bedeutung wäre, und auf dessen Richtigkeit man sich wirklich verlassen könnte. Sie kann uns nur über einige in verhältnismässig neuerer Zeit zutage getretene äussere Erscheinungen Nachricht geben, deren innere Ursachen sie nicht kennt, sie handelt von Personen, die sie nicht kennen kann, weil sie nicht weiss, dass alle Personen nur Symbole, Instrumente einer allen Erscheinungen zugrunde liegenden geistigen Kraft sind, deren Dasein sie nicht kennt und deren Natur für sie ein Rätsel ist. Unter diesen Umständen ist das Erscheinen von H. P. Blavatskys „Secret Doctrine" (Geheimlehre) ein epochemachendes Ereignis. Aus dem Grunde der Selbsterkenntnis geschrieben und mit logischen Gründen gepanzert, giebt sie uns ein wahres Bild der Geschichte der Welt, und es ist sehr zu wünschen, dass dieses Buch ins Deutsche übersetzt wird, sobald das Verständnis in Deutschland reif dazu wird; denn eine wahre Anschauung der Natur des Weltalls und der Konstitution des inneren Menschen ist die Grundlage aller Philosophie und Religion.

In religiöser Beziehung erblicken wir auch in Deutschland eine Auflösung der steifen Formen und dadurch ein Freiwerden des Geistes, der die belebende Kraft der Formen ist. Trotz alles staatlichen Schutzes beginnt das Pfaffentum zu wanken und dadurch der Geist des wahren Christentums, welcher die Wahrheit ist, sich auszubreiten und in die Tiefen der Menschenherzen zu dringen. Christus, der so lange als Kirchendiener behandelt wurde, fängt wieder an als der König der Kirche betrachtet zu werden, und wenn auch in kirchlichen Kreisen noch überall das Selbstinteresse vorherrschend ist, so besitzt dasselbe doch nicht mehr seine frühere Gewalt. Die Predigten, welche man heutzutage von den Kanzeln hört, atmen vielfach einen ganz anderen Geist, als vor zwanzig Jahren, und viele davon zeugen von einem höheren Grade der Erkenntnis, welcher auch die Geistlichkeit ergriffen hat. Eine Rückkehr zum heuchlerischen Muckertum des vorigen Jahrhunderts halten wir für eine Unmöglichkeit. Eine Bürgschaft vor dieser Rückkehr ist uns das Fiasko, welches das vorgeschlagene Schulgesetz machte.

Wie durch die Ausbreitung der Toleranz dem sektiererischen Unwesen der verschiedenen Kirchengemeinden der Boden entzogen wird, so hat auch durch das Aufhören der Opposition die Freimaurerei den Zweck ihres Daseins teilweise verloren. Wo jeder seine Meinung frei aussprechen darf, da ist kein Grund vorhanden, dieselbe geheim zu halten.

Was aber die wirklichen okkulten Mysterien, die Religionsgeheimnisse betrifft, so sind dieselben in der modernen Freimaurerei schon längst zur Fabel geworden. Wir sehen in Deutschland keinen Kerning (Koalis) mehr als Meister vom Stuhl, und das geheimnisvolle Wort, welches beim Tode von Hiram Abiff verloren ging, ist auch noch jetzt nicht in den Logen zu finden, weil es ein lebendiges Wort ist, das nur im Innern, wo es wenige suchen, zu finden ist. Wie die Kirchen, so sind auch die Freimaurerlogen zum grossen Teil nur Plätze für gesellige Unterhaltung geworden. Die wahre Freimaurerei, d. h. die von aller Dogmatik freie innere Erbauung des geistigen Menschen, ist aber nur dann möglich, wenn alle Separatinteressen beiseite gesetzt werden und die eine göttliche Wesenheit, welche im Herzen von allen wohnt, anerkannt wird.

Diese Einheit und die daraus folgende Einheit aller Völker und Menschen zu begreifen, wäre wohl nirgends nötiger als in Österreich, wo sich so viele Nationalitäten mit ihren Sonderinteressen feindselig gegenüberstehen. Hier fände sich zu diesem Zwecke ein grosses und fruchtbares Feld für den Wirkungskreis einer „theosophischen Gesellschaft“. Leider aber widersetzen sich die massgebenden Behörden, die Erlaubnis zum Bestehen eines solchen Vereins zu erteilen, da sie sich, aus unbegreiflichen Gründen, einbilden, dass dieser Verein ein „geheimer“ sei. Sicherlich wird sich aber auch hier der Zeitgeist an seinem Fortschritt nicht durch die Bureaukratie hindern lassen, wenn auch dieselbe seiner äusseren Bethätigung einen Stein in den Weg legen kann.

Als eines der erfreulichsten Ereignisse in Österreich erscheint uns das Erscheinen der Zeitschrift „Die Waffen nieder“, herausgegeben von Baronin Bertha von Suttner. Ein allgemeiner Weltfriede wäre allerdings sehr erwünscht, nur wird es nicht möglich sein, durch äussere Mittel ihn zu erlangen. Erst wenn im Herzen der Friede wohnt, kann auch das Äussere zur dauernden Ruhe kommen, im einzelnen Menschen sowohl als im Leben der Völker. Dieser Friede wird aber nicht durch blosse Argumente über die Zweckmässigkeit desselben oder durch die Betrachtung äusserlicher Vorteile, die durch denselben erlangt werden könnten, sondern nur durch die Selbsterkenntnis erlangt. Es giebt keinen andern Erlöser, als die göttliche Liebe. Diese Liebe aber ist die Selbsterkenntnis Gottes im Menschen, wodurch der Mensch sich selbst als ein Glied der grossen Kette, als eine Einheit im Ganzen erkennt.

In Russland scheint es noch sehr dunkel zu sein. Die Selbstsucht tritt dort in verschiedenen Formen, als Antisemitismus, Orthodoxie, Bestechlichkeit usw., ganz besonders auf. Dass es aber auch in Russland einzelne Menschen giebt, welche einer höheren Erleuchtung der Vernunft fähig sind, beweist das Auftreten von Leo Tolstoi und „Vater Johannes“ von Kronstadt. Den jNachrichten zufolge, die wir über den letzteren erhalten, scheint derselbe ein wirklicher Yogi (ein Heiliger) zu sein, der alles durch seine geistige Kraft (Beredsamkeit, Heilung von Krankheiten, Auferweckung von Toten), wie auch durch seine Selbstaufopferung und Wohlthätigkeit in Bewunderung versetzt.

In Frankreich scheint man keine Zeit zu haben, zur Selbsterkenntnis zu kommen. Man ist dort viel zu sehr mit äusseren Dingen beschäftigt, um das Innere, aus dem schliesslich alles Äussere kommt, kennen zu lernen. Zwar bemüht sich unser Freund M. Coulomb, seinen Landsleuten im „Lotus bleu“ die Lehren der indischen Adepten zur Kenntnis zu bringen, und sie dadurch einer höheren Weltanschauung zugänglich zu machen, aber von den wenigen, welche diesen erhabenen Lehren lauschen, erfassen die meisten nur die wissenschaftliche Seite derselben und suchen die dabei erlangten metaphysischen Kenntnisse zu irdischen Zwecken auszunützen, während sie das religiöse Element ausser acht lassen. Andererseits versucht die Herzogin von Pomar, von den besten Absichten beseelt, in ihrer „Amore“ die christliche Religion mit der menschlichen Vernunft in Einklang zu bringen, was wohl kaum gelingen wird, so lange diese Vernunft nicht von göttlicher Weisheit erleuchtet ist. Dies wird aber schwerlich der Fall sein, so lange man in Frankreich nicht die Nichtigkeit aller irdischen Dinge erkennt, und es steht zu befürchten, dass man dort noch eine harte Schule wird durchmachen müssen, ehe man zu dieser Erkenntnis gelangt. Allerdings hat es den Anschein, als ob die geistige Flut, deren Wellenschlag jetzt alle Länder der Erde berührt, auch in Frankreich sich fühlbar mache, denn ein gewisser neuer Kanzelredner namens Pelardin (?) soll dort grosses Aufsehen machen und Tausende mit seinen Worten begeistern. Wir wollen hoffen, dass diese Begeisterung eine bleibende ist; aber so wie wir den Nationalcharakter der Pariser kennen, scheint es uns, dass, wenn selbst ein Engel dort sichtbar vom Himmel herniederstiege, er auch nur vorübergehendes Staunen erregen und man nicht weiter daran denken würde, sobald ein neues Ballett in die Mode käme.

In Spanien scheinen die theosophischen Lehren raschere Anerkennung zu finden, was wohl der vorzüglichen Redaktion der „Estudios Teosoficos“ zu danken ist. Italien dagegen befindet sich noch in der Kindheit des „Spiritismus“, welcher in Deutschland ein überstandener Standpunkt zu werden beginnt, wofür wir der „Sphinx“ zu Dank verpflichtet sind.

Der Norden ist das Land der Träumerei, und deshalb konnte es auch nicht fehlen, dass die so geheimnisvoll und märchenhaft klingenden Lehren der Indier einen tiefen Eindruck auf den Norden machten, und in Schweden, Dänemark und Norwegen rasche Verbreitung fanden. Die Selbsterkenntnis ist aber kein leerer Traum, wenn sie sich einmal im Menschen verwirklicht hat, und die „theosophische Bewegung“ im Norden bietet günstige Vorzeichen, dass diese Verwirklichung des höchsten Idealen dort vielfach Platz greifen und die Ursache eines neuen Erwachens sein wird, welches alles Vergängliche als einen trügerischen Traum erscheinen lässt.

In England findet dies Erwachen vielfach statt, und man fängt an zu begreifen, dass ein äusserer Firnis von Moralität noch lange keine Tugend ist. Die öffentlichen Vorlesungen von Mrs. Annie Besant sind stets überfüllt, so dass man fortwährend gezwungen ist, sich nach noch grösseren Versammlungslokalen umzusehen. Das Andenken von H. P. Blavatsky wird jetzt ebenso hoch gehalten, als ihre Person zu Lebzeiten verlästert wurde. Zahlreiche Wohlthätigkeitsanstalten wurden von der „Theosophischen Gesellschaft“ gegründet, und die „Theosophical Publication Society“ unter der Leitung von Gräfin Wachtmeister verbreitet eine grosse Menge theosophischer Litteratur.

Was aber uns betrifft, so haben wir das begonnene Werk aus keinem anderen Grunde übernommen, als um der Sache des geistigen Fortschrittes in Deutschland einen Dienst zu erweisen, und sind gerne bereit, die Feder niederzulegen, sobald sich jemand findet, der sie besser zu führen versteht. Wir gehören keiner Sekte an, und betrachten als unseren Mitarbeiter jeden gut und edel denkenden Menschen, und verlangen von ihm nichts anderes, als dass er seiner innersten Überzeugung gemäss handelt. Ob er der „Theosophischen Gesellschaft“ angehört oder nicht, ist uns gleichgültig, und wenn er auch die Bedeutung der Bezeichnung „Theosophie“ nicht kennt, oder ihm diese Bezeichnung zuwider ist, weil er damit falsche Begriffe verbindet, thut dies nichts zur Sache. Um geistige Selbsterkenntnis zu besitzen, dazu braucht man keine indische Philosophie zu studieren, und wer keine eigene Erkenntnis besitzt, der hat auch keinen Nutzen von irgendwelcher Philosophie. Wer aber die Wahrheit in sich hat, und sie nicht erkennen kann, weil ihm angelernte und anerzogene Vorurteile und Wahnbegriffe im Wege stehen, welche er nicht abschütteln kann, der wird in den Weisheitslehren des Orients einen Weg finden, der ihn zu der Quelle leitet, aus welcher jeder selbst unsterbliche Wahrheit schöpfen kann.

Diese Quelle ist die Wahrheit selbst. Die theoretische Kenntnis der Wahrheit ist Philosophie, die praktische Selbsterkenntnis derselben ist Theosophie. Dass wir unsere Lehren nicht als „Philosophie“, sondern als der „Theosophie“ zugehörig bezeichnen, hat darin seinen Grund, dass dieselben nicht der logischen Spekulation, sondern der göttlichen Selbsterkenntnis der Weisen entsprangen. Ob es aber eine solche göttliche Selbsterkenntnis im Menschen giebt, und ob dieselbe möglich ist, darüber zu streiten ist nutzlos; der einzige Weg, um sich davon zu überzeugen, ist, dass man sie selber erlangt, und man erlangt sie nur dadurch, dass man sich völlig in sie ergiebt. Diese Selbsterkenntnis der eigenen göttlichen Natur ist das wahre Geistesleben im Menschen, das Licht, welches ihn erleuchtet und welches auch im Tode nicht erlischt. Deshalb sagt Christus:

-      „Wer mir nachfolgt, der hat das ewige Leben“

Und die Bhagavad Gita bestätigt es mit den Worten:

-      „Komm zu mir, als deinem alleinigen Zufluchtsort. Ich werde dich von allem Übel erlösen.“ (XVIII. 66.)

Um aber schliesslich auf die „Theosophische Gesellschaft“ in Deutschland zurückzukommen, so sollte dieselbe allerdings die äusserliche Repräsentation des geistigen Fortschrittes sein, ist es aber leider noch lange nicht. Diese Gesellschaft hat nicht, wie viele zu glauben scheinen, den Zweck, dem Publikum den Geist der göttlichen Selbsterkenntnis einzutrichtern, sondern dazu beizutragen, durch Wort und durch That der Idee der allgemeinen Menschenverbrüderung Eingang zu verschaffen. Da sich dem Verständnisse dieser Idee eine Menge Irrtümer in den Weg stellen, welche die Folge verkehrter Anschauungen über Natur und Menschheit sind, so hat es sich die „Theosophische Gesellschaft“ zur Aufgabe gemacht, sich nicht bloss auf ein einseitiges Studium der Religionen des Westens zu beschränken, sondern auch diejenigen des Ostens kennen zu lernen, und beide miteinander zu vergleichen.

Die wahre theosophische Vereinigung, von der jede äussere Gesellschaft nur ein fehlerhaftes Symbol sein kann, ist, wie die wahre alleinige Kirche, eine geistige Vereinigung, welche zu ihrem Bestehen keiner polizeilichen Genehmigung bedarf, nämlich eine Vereinigung derjenigen Menschengeister, welche Selbsterkenntnis besitzen, und es ist gerade dieser Geist der Wahrheit und Weisheit, welcher dieselben zu einem Ganzen vereint, wenn auch die betreffenden Menschen, in denen dieser Geist sich zu offenbaren strebt, einander persönlich unbekannt sind. Wo dieser innere Geist fehlt, da hat auch das Zusammentreten einer äusserlichen Gesellschaft keinen Zweck und ist nur ein Kinderspiel. Eine „Gesellschaft“, zu selbstsüchtigen Zwecken gegründet und von Menschen geleitet, die keine Selbsterkenntnis besitzen, kann wohl eine Gesellschaft für äussere Zwecke, aber keine „theosophische“ sein. Wir halten es deshalb für besser, ohne den mit dem öffentlichen Auftreten einer Gesellschaft verbundenen Pomp im geistigen Sinne zu wirken, als für irgend eine Gesellschaft Propaganda zu machen. Das Äussere muss das Resultat der inneren Thätigkeit sein. Wo der Keim, das Leben und die Nahrung vorhanden sind, da wächst die Pflanze von selbst. Möge daher jeder in sich selbst nach dem Geiste der Wahrheit suchen, und wenn er ihn gefunden hat, so hat er auch seinen richtigen Führer gefunden, und die äussere Vereinigung wird von selbst erfolgen, nach dem Gesetze des Geistes in der Natur.


(Lotusblüten, 1893, Band 1, S. 144-163)





2.11.18

DIE THEOSOPHISCHEN LEHREN



Von Franz Hartmann

„Die grosse Wahrheit der Erkenntnis der Ursache aller Leiden, o Bikkschus, ist nicht eine überlieferte Lehre, sondern in mir selbst ging auf das Auge; es erwachte in mir die Erkenntnis; es offenbarte sich in mir selber die Weisheit; es erschien in mir selber das Licht."
(Gautama Buddha.)

„Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben."
(St. Johannes. XV. 6.)


Die Theosophie im wahren Sinne des Wortes ist die göttliche Selbsterkenntnis im Menschen, die Selbsterkenntnis der Wahrheit im Menschen und in allem in der Natur. Um die Wahrheit zu erkennen, braucht man nicht in die Ferne zu schweifen und in vielen Büchern zu forschen; man braucht sie nur in sich selber zu finden, und der Mensch findet sie dadurch, dass sie in ihm offenbar wird. Diese Kraft der Erkenntnis ist das wahre Leben, ihr Besitzer der Gottmensch, welcher die Menschheit aus der Nacht der Unwissenheit und des Irrtums erlöst, indem er in der ganzen Menschheit und im einzelnen Menschen seine Auferstehung feiert; sie ist das Licht, durch dessen Offenbarung Gautama ein Buddha, d. h. ein Erleuchteter wurde, und ohne das es keine wahre Religion, keine wahre Philosophie, keine wahre Erkenntnis und keine wahre Wissenschaft geben kann. Die Theosophie oder Gottesweisheit ist deshalb nicht ein System von Glaubensartikeln oder eine neue Philosophie. Sie ist höher als alle Philosophie, da sie nicht wie diese auf Spekulation, sondern auf Selbsterkenntnis beruht. Sie ist diejenige Kraft, durch welche der Mensch, wenn er Liebe zur Wahrheit besitzt, die Wahrheit in sich selber erkennen kann. Sie hat nicht den Zweck, die Menschen von einem kirchlichen System zu einem anderen zu bekehren, sondern sie ist ein göttliches Licht, das dazu dient, jeden zu befähigen, die Wahrheit zu finden, welche in ihm selbst enthalten und in dem religiösen Systeme, welches er befolgt, oder in seiner Philosophie dargestellt ist. Sie ist kein menschliches Machwerk und kann ebensowenig als das Licht der Sonne von irgend jemandem erfunden, erschaffen oder erzeugt werden, und wer sie nicht selbst besitzt, wird auch in den besten Büchern vergeblich nach ihr suchen. Wer aber die Weisheit besitzt, der erkennt sie auch in allem, was ihn umgiebt, und wie das Licht der Sonne die ganze Natur durchdringt, und von jedem wahrgenommen werden kann, der die hierzu nötigen Fähigkeiten besitzt, so kann auch das Licht der göttlichen Weisheit, das die Seele des Menschen erleuchtet, von jedermann wahrgenommen werden, wenn er nicht durch seine eigenen Irrtümer, verkehrten Anschauungen und Begierden sich selber verhindert, dasselbe zu sehen.

Thomas von Kempis sagt:

-       „Wohl dem, den die Weisheit durch sich selbst belehrt, nicht durch vergängliche Bilder und Worte, sondern so wie sie ihrem Wesen nach ist."

Würde jeder Mensch der Stimme der in ihm wirkenden göttlichen Vernunft Gehör schenken und die ewige Wahrheit in sich zur Offenbarungkommen lassen, so hätte niemand nötig, Bücher zu lesen. Wer eigne Erkenntnis hat, braucht keine Glaubensartikel und keine spekulative Philosophie. Da aber jeder, der diese göttliche Selbsterkenntnis erlangt hat, ein Adept ist, und es nur wenige Adepten giebt, während die weit überwiegende Mehrzahl der Menschen an teils angeerbten, teils anerzogenen Vorurteilen und Irrtümern hängt, so bedarf die grosse Mehrheit der Menschheit theosophischer Lehren, nicht um in ihnen ein Licht leuchten zu lassen, das nur die Wahrheit selber erzeugen kann, sondern um die Hindernisse aus dem Wege zu räumen, welche sich dieser Selbsterkenntnis der Wahrheit in den Weg stellen; und dies geschieht dadurch, dass man im Menschen den Glauben an ein höheres Dasein erweckt, indem man ihm eine höhere als die moderne „rationalistische“ Weltanschauung kennen lehrt, und diese höhere Weltanschauung findet sich in den klassischen Schriften des Altertums, vor allem aber in den Religionsphilosophien des Ostens, denen auch die christliche Bibel entstammt.

Es ist ein grosser Irrtum, die reine Theosophie oder göttliche Selbsterkenntnis mit den aus ihr entspringenden Lehren, oder gar mit den Meinungen und Ansichten einzelner Mitglieder der „theosophischen Gesellschaft“ zu verwechseln. Der natürlich gewordene Mensch, welcher vom Lichte der Gotteserkonntnis durchdrungen ist, erkennt Gott, sich selbst und die ganze Natur; dasjenige in ihm, was erkennt, ist über alle Theorie und Spekulation erhaben; Gott in ihm erkennt sich selbst und bedarf keiner Beweise und Schlussfolgerungen, um zu wissen, was er selber ist. Die theosophischen Lehren dagegen, wenn sie auch der Selbsterkenntnis desjenigen, der sie lehrt, entspringen, sind dagegen dennoch nichts als Theorien für diejenigen, welche diese eigene Wahrnehmung und Selbsterkenntnis nicht besitzen, und bleiben Theorien für jeden, bis dass er ihre Wahrheit durch eigene Erfahrung bestätigt findet. Was aber die Meinungen der einzelnen Mitglieder der „theosophischen Gesellschaft“ betrifft, so müssen dieselben schon deshalb auseinandergehen, da diese Gesellschaft an keine Glaubensartikel gebunden ist, und nicht bloss aus solchen Personen, die die Wahrheit schon gefunden haben, sondern zum grössten Teile aus solchen, die nach ihr suchen, besteht.

Der rechtgläubige Christ, welcher das „Licht der Welt“ in seinem eigenen Herzen kennen gelernt hat; der wirkliche Buddhist, welcher durch dieses Licht ein Buddha, d. h. ein „Erleuchteter“ geworden ist; der Brahmine, der in Wahrheit allein in Brahma seine Zuflucht gefunden hat, alle diese haben keine theosophischen Spekulationen oder Theorien nötig; denn sie erkennen die Wahrheit, und wer die Wahrheit erkennt, braucht keinen anderen Lehrmeister. Wer schon zum wahren göttlichen Leben erwacht ist und die Unsterblichkeit in sich selber gefunden hat, der braucht nicht erst darauf hingewiesen zu werden, dass es ein solches Erwachen giebt, oder sich eine Meinung darüber zu bilden, ob der Mensch unsterblich sein kann oder nicht.

Solcher wahren Gläubigen, welche Gotteserkenntnis besitzen, giebt es aber heutzutage sehr wenige. Die Mehrzahl der Frommen hängt an den Äusserlichkeiten ihrer Religion, hängt sich an den Buchstaben und vergisst darüber den Geist, und verhindert sich durch die übergrosse Wahrung der Form, in das Geheimnis zu dringen, welches in den Formen verborgen ist, und die Kraft zu erlangen, welche durch äussere Bilder und Allegorien sinnbildlich dargestellt ist; während die Feinde der Wahrheit, welche in jeder Religion überhaupt nur das äussere Gewand sehen können, die Religion verwerfen, weil sie den Kern darin nicht zu begreifen imstande sind. Die moderne Philosophie hält die Befriedigung der wissenschaftlichen Neugierde für den höchsten Grad von geistiger Erkenntnis; unsere „rationellen“ Philosophen zerbrechen sich die Köpfe über Dinge, welche sie eigentlich nichts angehen, da sie dasjenige, was sie zu erkennen wünschen, weder selber sind, noch sich bestreben, es zu werden; es ist aber wohl selbstverständlich, dass man nur von demjenigen, was man selber ist und selber besitzt, und nicht von dem, wovon man keine Erfahrung hat, wirkliche Selbsterkenntnis erlangen kann. Was die Naturwissenschaften betrifft, so erfüllen sie ihren Zweck, wenn sie sich mit den Verhältnissen der Dinge untereinander befassen, welche wir in dieser Erscheinungswelt, welche wir „Natur“ nennen, finden. Wenn die „Wissenschaft“ sich aber anmasst, über Dinge zu urteilen, welche ausserhalb des Bereiches ihrer Erkenntnisfähigkeit liegen, oder gar dasjenige ableugnet, was sie nicht sehen oder begreifen kann, dann ist sie auch keine Wissenschaft mehr, sondern eine Thorheit.

Die theosophischen Lehren legen uns die Wahrheit dar, wie sie sich denjenigen, in denen sie sich geoffenbart hat, zeigte; wie aber auch die ausführlichste Theorie über die Natur des Lichtes und dessen Schwingungen uns das Sehen nicht ersetzen könnte, wenn wir blind wären, so können auch die erhabensten Lehren der Weisheit demjenigen keine Selbsterkenntnis verschaffen, welcher das Gefühl für die Wahrheit nicht selber besitzt. Auch gehört zu ihrem Verständnisse durchaus nicht dasjenige, was man „moderne Bildung“ nennt, und welches in dem Besitz eines Wirrwarrs von auf Autoritätenglauben beruhender Meinungen besteht. „Je gelehrter, desto verkehrter“, ist ein Sprichwort, dessen Bestätigung wir täglich vor Augen haben. Wie der Geizhals an seinem Bettelsack, die Magd an ihrem Putz, der Narr an seinen Wahnvorstellungen hängt, so ist der moderne Philosoph von seinen Theorien und Hypothesen befangen, die er sich entweder in seiner Phantasie ausgeklügelt hat, oder anderen, die dieselben erfunden haben, nachbetet, ohne daran zu denken, dass das, was vor verhältnismässig wenigen Jahren als Wissenschaft vor der Welt paradierte, heutzutage zum Kindergespött geworden ist, und dass vielleicht dasjenige, was man heutzutage noch nicht begreifen kann, die Grundlage der Wissenschaft kommender Jahrhunderte bilden wird.

Um die reine Theosophie zu erlangen, dazu gehört keine Gelehrsamkeit, sondern nichts weiter als die Eekenntnis, d. h. das Einströmen des Lichtes der Sonne der ewigen Weisheit, oder mit anderen Worten, die Empfängnis des heiligen Geistes in der menschlichen Seele; und damit diese Empfängnis stattfinden kann, muss die Seele unbefleckt sein von niedrigen Begierden, rein von Eigendünkel, Eigenwille und Schwärmerei. Wem seine Hirngespinnste lieber sind als die Erkenntnis der Wahrheit, der lebt in seinen Hirngespinnsten und verschliesst sein Herz dem Lichte der göttlichen Weisheit. Von Ewigkeit schien dieses Licht in das Dunkel, aber das Dunkel kann das Licht nicht erkennen; das Licht kann nur von leuchtenden Wesen begriffen werden; wo es sich offenbart, da hört das Dunkel auf zu sein. Das Licht der ewigen Wahrheit ist überall, in uns selber sowohl als ausserhalb unseres Körpers; alles, was wir in der Natur sehen, ist eine Offenbarung der Wahrheit, aber solange wir die Wahrheit nicht in unserm eigenen Innern entdeckt haben, können wir sie auch in äusseren Dingen nicht erkennen. Solange wir selbst als wesenlose Schatten ohne innere Kraft im Schattenspiele dieser Welt eine Rolle spielen wollen und uns dabei für etwas Grosses und Besonderes halten, solange bestehen wir selbst aus dem Dunkel, welches das Licht nicht erkennen kann; erst wenn wir unsere eigene Persönlichkeit als ein Nichts erkannt haben, als eine Seifenblase, die eine Zeitlang in schillernden Farben glänzt und am Ende platzt, erst dann kann das Licht, welches allen Dingen ihre Farbe verleiht, in uns selbst und wir durch das Licht zur wahren Erkenntnis gelangen.

Das Aufgeben des eigenen scheinbaren Selbst, um dadurch zum wahren Selbst zu gelangen, die Aufopferung der Menschheit in uns auf dem Altare der Gottheit, die uns, ohne dass wir es wissen, durchdringt, und alles in allem erfüllt, das Verlassen aller persönlichen Wünsche und Begierden, um in ewigen Idealen allein seine Zuflucht zu nehmen und dieses in sich selbst zur Verwirklichung kommen zu lassen, ist die Grundlage jeder wahren Religion und Philosophie, und die hierzu nötigen Ratschläge finden sich in der Bibel und in den Schriften der Heiligen, und besonders klar und deutlich in der Bhagavad Gita und in den heiligen Büchern des Altertums.

Wer den tiefen Sinn der Religionsgeheimnisse, welche in der Bibel enthalten sind, erkennt, der braucht sich allerdings nicht an die Weisen des Altertums zu wenden, um den Weg zur göttlichen Selbsterkenntnis zu finden; es wird aber jeder, der den heutigen Kulturzustand in Europa zu beurteilen fähig ist, zugeben müssen, dass das geistige Verständnis der Bibel unter den Gebildeten heutzutage so gesunken ist, dass dieselbe nur als ein Buch voller Fabeln und Allegorien, als eine „jüdische Geschichte“, als eine, auf das jetzige Zeitalter nicht mehr passende Morallehre betrachtet wird. Um die Dinge, von denen es sich in der Bibel handelt, dem gewöhnlichen Menschenverstande näher zu bringen, sich dadurch zu einer höheren Weltanschauung aufzuschwingen und sein Gemüt der göttlichen Erleuchtung zugänglich zu machen, dazu genügt nicht die Auslegung derjenigen, welche den Schlüssel zu den Geheimnissen, als deren Hüter sie bestellt sind, verloren haben, dazu dienen die Aufklärungen derjenigen, bei denen die Religion nicht bloss eine Gefühlsschwärmerei, sondern eine durch Erfahrung bestätigte exakte Wissenschaft war. Die vergleichende Theologie ist eine in Deutschland noch beinahe unbekannte Wissenschaft, und dennoch kann derjenige, welcher noch keine eigene Erkenntnis besitzt, nur durch eine Vergleichung der verschiedenen Formen, in welchen ihm ein und dieselbe Wahrheit geboten wird, dazu gelangen, diese Wahrheit selbst zu entdecken. Es giebt nur eine einzige ewige Wahrheit, und sie ist in den verschiedenen Religionssystemen in verschiedenen Formen dargestellt. Eine Vergleichung dieser verschiedenen Formen, in welche die Wahrheit gekleidet ist, dient dazu, zwischen dem, was den Formen, und dem, was der Wahrheit selbst angehört, unterscheiden zu lernen und, indem wir uns von der Täuschung der Formen befreien, den Geist der Wahrheit zu befähigen, sich uns zu enthüllen.

Wenn wir aber den wahren Geist, der in den Vedas und Puranas, in den Upanishads, dem Mahabharata und der Bhagavad Gita lebt, kennen lernen wollen, so werden wir uns schwerlich an die europäischen Philologen wenden, welche uns wohl eine Übersetzung von Worten, nicht aber eine Wiedergabe des Sinnes derselben geben können, solange sie den Sinn derselben selbst nicht zu begreifen imstande sind. Eine Wissenschaft oder Philosophie ohne Weisheit, d. h. ohne die Erkenntnis der allem Wissen zugrunde liegenden Wahrheit, ist ein leerer Schein, und so ist auch die Erklärung von Schriften, deren geheimen oder tieferen Sinn der Erklärende selbst nicht versteht, ein Dreschen von leerem Stroh, wie die unsinnigen Kommentare, welche den meisten Übersetzungen orientalischer Werke angehängt sind, beweisen.

Die wahre Theosophie umfasst das ganze Gebiet des Wissens. Wenn Gott sich im Menschen und dadurch der Mensch sich in Gott erkennt, so erkennt er sich selbst als das Ganze und das ganze Weltall als eine Erscheinung seiner geistigen Natur. Die theosophischen Lehren beziehen sich deshalb auf die Erkenntnis der Wahrheit in allen Dingen, abgesehen von ihren äusseren Erscheinungen, deren Beobachtung in das Gebiet der Wissenschaft des Scheines gehört. Sie weisen uns daraufhin, was der Mensch seinem wahren Wesen nach ist, und was die Welt ist, in welcher er sich als eine vorübergehende Erscheinung bewegt. Sie unterrichten uns über den Ursprung und die Bestimmung des geistigen Menschen, über die Zusammensetzung der Organisation, in welcher er wohnt, und über das Schicksal, welchem die einzelnen Teile oder Elemente, aus denen seine Natur besteht, nach der Auflösung des Bandes, welches diese Kräfte zu einem Ganzen verbindet, verfallen. Sie lehren uns, dass der wirkliche und wesentliche Mensch nicht die begrenzte Erscheinung ist, unter welcher er sich unseren Sinnen darstellt, sondern ein viel höheres Wesen, das sich in dieser Erscheinung, welche seine „Person" darstellt, offenbart, dessen Dasein aber nicht auf das Dasein dieser persönlichen Erscheinung beschränkt ist, das in ihrem innersten Wesen unsterblich ist und sich dieser Unsterblichkeit bewusst zu werden vermag. Sie lehren uns, dass der Zweck des menschlichen Daseins ist: dass er zur Selbsterkenntnis seiner wahren göttlichen Natur gelange und dass er, solange er diese Selbsterkenntnis nicht erlangt hat, immer wieder eine neue Rolle in dieser Welt der Erscheinungen spielen muss, angezogen durch seine Begierde zum Leben, bis dass er endlich sein „Ich“ den Erlöser, d.h. den Gottmenschen in sich selber gefunden hat und dadurch zur Selbsterkenntnis und Freiheit gelangt ist. Sie lehren uns, dass die Gesetze des Karma, d.h. der göttlichen Gerechtigkeit, unabänderlich sind, dass das, was der Mensch säet, er in diesem oder im zukünftigen Leben ernten wird, und dass es keine andere Vergebung der Sünden giebt, als diejenige, welche eintritt, wenn der Mensch durch eine Vereinigung mit seiner göttlichen Natur sich von seinem eigenen täuschenden, sündhaften „Selbst“ befreit.

Würde der Mensch Gott in sich selbst und in der ganzen Menschheit erkennen, so würde er dadurch zu einem höheren Selbstbewusstsein, zu einer Erkenntnis seiner wahren Menschenwürde gelangen. Die Welt schwärmt von Reformern, welche den Baum der Menschheit durch äusserliche Beschneidung verbessern wollen. Europa ist von Kriegen bedroht und vergeblich suchen die Friedensfreunde den bewaffneten Frieden, welcher ebenso schlimm ist als der unbewaffnete Krieg, abzuschaffen, da doch hierzu vor allem die wahre Erkenntnis gehört. Das Kapital ist mit der Arbeit im Streit, weil die eine sowohl als die andere Seite vor allem auf ihren eigenen Vorteil bedacht ist. Eine Horde von Unvernünftigen lässt unter der Maske der Religion und Humanität ihren Leidenschaften die Zügel schiessen, und missbraucht den Namen des Christentums zu Zwecken, welche dem Geiste desselben geradezu entgegengesetzt sind. Überall herrscht Eigendünkel und Selbstsucht und die Gier nach dem, was vergänglich ist und keinen wirklichen Wert besitzt. Würde die Mehrzahl der Menschen auch nur eine Ahnung ihrer eigenen höheren Natur haben, so würden alle die Übel, die man jetzt vergebens gewaltsam beseitigen will, von selbst aufhören, da ihnen die Wurzel, aus der sie entspringen, entzogen würde; die Erkenntnis allgemeiner Menschenrechte würde an die Stelle der Vorrechte von Nationen und Klassen treten, und wir könnten ein Reich der Vereinigten Staaten von Europa bilden, ein Reich des Friedens, in welchem der wahre Fortschritt gedeihen hönnte. Es hindert uns nichts daran, als die Verkehrtheit unserer ei genen Anschauung, infolge deren wir nichts sehen als das eigene täuschende vergängliche Selbst, und was auf dasselbe Bezug hat.

Es giebt für die Menschheit kein anderes Heil, keine andere Erlösung als in Gott, aber der Gott, der allein uns befreien kann, ist nicht der Gott der populären Theologie, welcher ausserhalb der Welt existiert, je nach seiner Laune handelt und sich durch Petitionen bewegen lässt, nach menschlichem Willen zu handeln. Wie jeder Baum, jedes Tier nur durch diejenige Kraft genährt und erhalten wird, welche in seinem eigenen Organismus als Leben wirkt, so kann auch der Mensch nur durch dasjenige Licht, welches in ihm selbst offenbar wird, zur wahren Erkenntnis, zum Bewusstsein seiner menschlichen und göttlichen Würde gelangen.

Dieses höhere Selbstbewusstsein kann nicht durch eine forcierte religiöse Erziehung erweckt werden, welche in dem Einbläuen von missverstandenen Dogmen und der äusserlichen Befolgung kirchlicher Gebräuche besteht, auch nicht durch die Begünstigung eines Kirchentums, welches Christus zum Kirchendiener gemacht hat, um weltlichen Interessen zu dienen, auch durch keine Erziehung, welche den Menschen unselbständig macht, indem sie ihn darauf hinweist, sein Heil in irgend etwas anderem als in der in ihm selbst wirkenden Kraft des göttlichen Geistes zu suchen. Ist aber der Mensch einmal dahingekommen, in sich selbst nach der Freiheit von allem, das ihn erniedrigt, zu suchen, und seine eigene Welt kennen zu lernen und zu beherrschen; dann wird er auch in seiner Seele schlummernde Kräfte entdecken, von denen die moderne Wissenschaft nichts weiss, die aber nur erweckt werden, um aus ihm, dem Wurm der Erde, einen Herrscher des Himmels und der Erde zu machen, dem seine ganze Natur unterthan ist.

Seit der Ausbreitung der „theosophischen Gesellschaft“ in Indien haben sich eine Menge der kostbarsten litterarischen Schätze in Bezug auf Kosmologie, Anthropologie usw. unserer Forschung eröffnet, welche früher den Europäern verborgen waren; denn bei den Indiern gilt mehr als bei andern der Grundsatz, dass man sich heiligen und erhabenen Dingen nicht anders als mit erhabenem Gemüte nahen soll, und es ist leicht zu begreifen, dass die Brahminen nur mit scheelem Auge auf die Profanation und Verunstaltung ihrer heiligen Bücher durch unheilige und skeptisch denkende „Orientalisten“ sahen. Da aber der erste Grundsatz und einzige Glaubensartikel dieser Vereinigung die Gleichberechtigung aller Menschen vor dem Throne der Wahrheit ist, so hat auch die darausfolgende Verbrüderung zwischen dem Osten und dem Westen dazu gedient, die Schranken niederzureissen, welche Jahrhunderte der Intoleranz und Bigotterie zwischen ihnen aufgebaut hatten, und während das moderne Kirchentum Europas, welches fast nur mehr als Modesache besteht, seinem Zerfalle entgegengeht, entzündet sich für uns eine neue Leuchte im Osten, ein Licht verbreitend, welches keine sektiererischen Bestrebungen kennt, welches den Christen und Juden, Brahminen, Buddhisten und allen genügen kann, das Licht der Wahrheit, dessen Erkenntnis die Weisheit ist.


(Lotusblüten, 1893, Band 1, S. 87-105)





1.11.18

KURZER ABRISS DER GESCHICHTE DER THEOSOPHISCHEN GESELLSCHAFT



Von Franz Hartmann

Im Jahre 1875 fanden sich in New-York einige Personen in angesehener Stellung zusammen, um ihre Meinungen in Bezug auf die höheren Probleme der Menschheit, welche die Denker aller Nationen seit urdenklichen Zeiten beschäftigt haben und auch ferner beschäftigen werden, auszutauschen. Die Mehrzahl derselben hatte vergeblich im modernen Kirchentum nach einer höheren Erkenntnis gesucht. Manche davon hatten sich dem Studium des damals zum „guten Ton“ gehörigen materialistischen Rationalismus gewidmet und, um mit Goethe zu sprechen, „mit eifriger Hand nach Schätzen gesucht, aber nur Regenwürmer gefunden“. Andere hatten sich in ihrem Drange nach handgreiflichen Beweisen von einer Fortdauer der Seele nach dem Tode des Körpers dem Spiritismus in die Arme geworfen, aber auch hier nach jahrelangem, mühseligem Forschen grosse Enttäuschungen erfahren; denn die Mitteilungen der angeblichen Geister der Verstorbenen waren entweder von so untergeordneter Art, dass sie ein derartiges, mit dem Verluste der Intelligenz verbundenes Fortleben als einen bejammernswerten Zustand erscheinen liessen, oder in den Fällen, in denen diese Mitteilungen einen Grad von annehmbarer Intelligenz aufwiesen, liess sich die Quelle derselben in ganz anderen Ursachen, als in dem Verstande der „Abgeschiedenen“ finden.

Unter den betreffenden Personen befand sich auch eine russische Dame, namens Helene Petrowna Blavatsky, eine geborene Hahn. Diese Dame hatte grosse Reisen im Kaukasus, in Turkestan, Indien und Ägypten gemacht, viel von Dingen gesehen, von denen sich die europäische Schulweisheit nichts träumen lässt, und in ihren metaphysischen Studien hatte sie manche Geheimnisse entdeckt oder war darin von den Eingeweihten unterrichtet worden. Ausserdem besass sie eine eigentümliche psychische Organisation und Willenskraft, welche es ihr ermöglichte, die von den Spiritisten angestaunten „unerklärlichen“ Wunder aus eigener Kraft und nach Belieben hervorzubringen und dadurch die natürlichen Erklärungen, welche sie darüber gab, zu bestätigen.

Unter diesen Umständen ist es nicht zu verwundern, dass sich H. P. Blavatskys Ruf, auch ohne dass sie darnach verlangte, verbreitete, und dass Gelehrte aus allen Kreisen dieser Vereinigung zuströmten, welche „Theosophische Gesellschaft“ genannt wurde und zu ihrem Präsidenten einen amerikanischen Oberst, Col. Henry S. Olcott, erwählte. Der Name „theosophische“ anstatt „philosophische“ Gesellschaft wurde aber, wie es scheint, deshalb gewählt, weil die Mitglieder derselben beabsichtigten, sich nicht mit einer bloss theoretischen Spekulation in Bezug auf die der Menschennatur innewohnenden Seelenkräfte zu begnügen, sondern, durch Ausübung derselben eigene praktische Kenntnis derselben zu erlangen. Diese Selbsterkenntnis der eigenen inneren Natur gehört aber mit Recht in das Gebiet der Gotteserkenntnis oder Theosophie.

Was Helene Petrowna Blavatsky und das ihr, infolge ihrer humanitären Bestrebungen zu teil gewordene moderne wissenschaftliche Martyrtum betrifft, so werden wir in einem folgenden Hefte darauf zurückkommen. Für heute genügt es uns, das Schicksal der „theosophischen Gesellschaft“ zu verfolgen.

Unter den Mitgliedern, welche dieser Vereinigung zuströmten, befanden sich Wahrheitssucher aus allen Kreisen, Gelehrte und Ungelehrte, christliche Geistliche, jüdische Rabbiner, Philosophen aller Art und auch viele, welche bloss die Neugierde angelockt hatte; denn da von keinem Glaubensartikel die Rede war, von keinem Meister, „auf dessen Worte man schwören musste“, so waren Meinungsdifferenzen kein Hindernis zum Beitritt, und jeder hatte das Recht, seine eigenen Ansichten geltend zu machen und die andern, wenn es ihm gelang, zu überzeugen, wie dies auch heutzutage in dieser Gesellschaft der Fall ist. In der That wichen die Meinungen der Mitglieder weit von einander ab. Wie aber z. B. in einer „geographischen Gesellschaft“ die Mitglieder darüber verschiedener Meinung sein können, wo die Quellen des Nils zu suchen seien, während doch alle darüber einig sind, dass der Nil einen Ursprung hat, ebenso waren und sind alle Mitglieder der „theosophischen Gesellschaft“ darüber einig, dass jedes Dasein einen Grund, eine Ursache haben müsse. Diese Ursache zu finden, war und ist die Aufgabe nicht bloss der Mitglieder der „theosophischen Gesellschaft“, sondern eines jeden vernünftigen Menschen, und wenn einzelne unter uns im Verlaufe ihrer Untersuchungen einen besseren Leitstern dabei gefunden haben, als Darwin und Haeckel oder die moderne Theologie, so sind sie deshalb gewiss nicht zu beklagen.

Während der neue Verein in Amerika an Kräften zunahm und sich das Publikum, welches für die den „okkulten Phänomenen“ zugrunde liegende Philosophie kein Verständnis hatte, mit den „Wundern“ beschäftigte, die man sich von H. P. Blavatsky erzählte, wobei letztere einerseits von den Abergläubischen mit abgöttischer Verehrung betrachtet, andererseits von den Unverständigen als „Betrügerin“ verschrieen wurde, betrieben die Gründer des Vereins eine lebhafte Korrespondenz mit Indien, dem Lande der Geheimnisse und „Wunder“, u. a. mit dem Arya Samaj und dem bekannten Swami Daganand, welcher in Indien damals eine Rolle spielte, vergleichbar zu Luthers Reformation in Europa. Zweiggesellschaften wurden in Indien und Ceylon gebildet, hervorragende Buddhisten und Brahminen beteiligten sich, und da es sich bald zeigte, dass Indien der Platz sei, um sich litterarische Schätze und Kenntnisse über eine Wissenschaft zu holen, von der die Gelehrten des Westens erst jetzt das A-B-C zu lernen beginnen, so wurde das Hauptquartier der „theosophischen Gesellschaft“ im Jahre 1878 nach Bombay verlegt, nachdem sich während dieser Zeit auch Zweiggesellschaften in verschiedenen Teilen Europas gebildet hatten.

In Indien wurde die „amerikanische Delegation“, wie man sie nannte, mit grossem Jubel empfangen. Wie vor alten Zeiten die Juden nicht begreifen konnten, dass das Reich Christi nicht von dieser Welt sei, sondern von ihm erwarteten, dass er als ein König der Israeliten der römischen Herrschaft ein Ende machen werde, so glaubte auch das gemeine Volk in dem amerikanischen Obersten einen Befreier zu sehen, welcher die Herrlichkeit Aryavarthas wieder herstellen würde, ein Umstand, um den sich Col. Olcott sicherlich keine grossen Illusionen machte. Dieser Erwartung ist es vielleicht zuzuschreiben, dass sich eine Menge hervorragender Rajas und Brahminen mit grossem Enthusiasmus an der Sache beteiligte. Aber auch wirkliche Yogis, welche den wahren Zweck der Gesellschaft erkannten, beteiligten sich; es fand eine nie vorher dagewesene Verbrüderung zwischen Indiern und Europäern statt, und die Folge davon war, dass die Mitglieder der Gesellschaft zu Heiligtümern Zutritt erlangten, welche früher für das Auge aller Europäer hermetisch verschlossen waren, und eine Menge von Manuskripten kam zum Vorschein, nach denen unsere profanen Gelehrten früher vergebens gesucht und sogar deren Dasein bezweifelt hatten. Nach einiger Zeit wurde das Hauptquartier nach Adyar, einer Vorstadt von Madras, verlegt, wo sich dasselbe auch jetzt noch befindet.

Da durch die Thätigkeit der „theosophischen Gesellschaft“ die denkenden Klassen unter den Indiern, auch ohne dass man sie dazu aufforderte, beeinflusst wurden, über sich selbst und über die allen Religionen zugrunde liegende Wahrheit nachzudenken, so ist es begreiflich, dass dieses Selbstdenken den protestantischen Missionären ein Dorn im Auge war. Wie in Amerika H. P. Blavatsky von den Spiritisten angefeindet wurde, weil sie deren liebste Illusionen zerstörte, indem sie den spiritistischen Geistern die Maske entriss und dieselben in ihren wahren Gestalten vorführte, so lud sie nun den tödlichen Hass der christlichen Missionäre auf sich, indem sich die Zahl der Proselyten derselben und das Einkommen der Kirche in demselben Grade verringerte, als die „Heiden“ einsahen, dass man das wahre Christentum nur in sich selber finden könne, und dass ohne diese innerliche Erkenntnis ein äusserlicher Religionswechsel nur Betrug, Heuchelei und Verstellung sei.

Wenn auch Col. Olcott der äusserliche Leiter der Gesellschaft war, so war doch H. P. Blavatsky die Seele derselben, und es galt daher vor allem, ihren Charakter zu ruinieren, um der Gesellschaft beizukommen, denn die Verfassung der letzteren enthielt durchaus nichts, an dem selbst der spitzfindigste Advokat etwas zu bemäkeln hätte finden können, da ihre ganze Grundlage die praktische Anerkennung allgemeiner Menschenrechte, die bereits überall theoretisch anerkannt sind, und die Beförderung wissenschaftlicher Untersuchungen ist. Als daher im Jahre 1883 H. P. Blavatsky zusammen mit Col. Olcott auf Besuch in Europa waren, hielten die Missionäre den geeigneten Augenblick für gekommen, um der „theosophischen Gesellschaft“ einen längst vorbereiteten tödlichen Streich zu versetzen, und nachdem sie ein Ehepaar namens Coulomb, das am Hauptquartier bedienstet war, für sich gewonnen hatten, veröffentlichten sie eine Reihe von teils gekauften, teils gefälschten Dokumenten, in welchen sich H. P. Blavatsky über die Leichtgläubigkeit von verschiedenen ihrer hervorragenden Bewunderer lustig macht. Sie rechneten dabei nicht mit Unrecht darauf, dass sich diese Bewunderer, in ihrer Eitelkeit gekränkt, von H. P. Blavatsky lossagen und gegen die Gesellschaft kehren würden. Aber die Sache kam anders.

Als Col. Olcott und H. P. Blavatsky von Indien abreisten, wurde ein Verwaltungsrat für die „theosophische Gesellschaft“ bestellt, als dessen Vorsitzender der Schreiber dieser Zeilen fungierte. Zufälligerweise (?) erhielten wir Kenntnis von den Machinationen der Missionäre, und so kam es, dass an demselben Tage, an welchem diese ihre Bombe platzen liessen, die Antwort darauf auch schon gedruckt war.

Veranlassung zu den Verfolgungen, denen H. P. Blavatsky vielfach ausgesetzt war, gaben die „okkulten Phänomena“, welche teils von ihr willkürlich hervorgebracht wurden, teils in ihrer Gegenwart und teils auch während ihrer Abwesenheit stattfanden. Für sie waren die Gedanken der Anwesenden ein offenes Buch, und es schien, als ob sie, wie es in den Legenden verschiedener Heiligen zu lesen ist, imstande wäre, sich geistig an entfernte Orte zu versetzen. Ausserdem stand sie mit anderen Personen in Indien und Tibet in Verbindung, welche ähnliche und noch höhere Kräfte besassen, um in die Ferne zu wirken, und so kam es denn, dass von uns auch während ihrer Abwesenheit in Europa, bei besonderen Gelegenheiten, wenn irgend ein Rat nötig war, Briefe, von unsichtbarer Hand geschrieben, uns zukamen, welche die betreffenden Ratschläge oder Aufklärungen enthielten u. dergl. Solche Phänomene fanden nicht statt zu dem Zwecke, uns in Erstaunen zu setzen, wenn wir derartige Briefe erhielten; so war es nicht zu dem Zwecke, um zu beweisen, dass man durch Kräfte, welche der europäischen Wissenschaft noch unbekannt sind, Briefe schreiben könne; sondern, wie jeder andere Brief, hatten auch diese nur den Zweck, uns von irgend etwas in Kenntnis zu setzen, das für uns von Interesse war. Aber der gelehrte und ungelehrte Pöbel in England und Amerika konnte in solchen okkulten Ereignissen, deren Vorkommen leider nicht verheimlicht wurde, nichts weiter sehen, als einen Versuch, auf die Leichtgläubigkeit des Publikums zu spekulieren, und aus der Einmischung Auswärtiger in Dinge, welche ihn durchaus nichts angingen, entstand ein neuer Anlass zur Verfolgung von H. P. Blavatsky.

Infolge der Prahlsucht oder des blinden Enthusiasmus einiger Mitglieder der „theosophischen Gesellschaft“ hatte nämlich die bekannte „Society for Psychical Research“ in London, welche die Untersuchung von Spukgeschichten zum Zweck ihres Daseins hat, von diesen Phänomenen gehört, und da sie dieselben mit spiritistischen Narrheiten verwechselte, so entsandte dieser Verein einen jungen Mann als „Sachverständigen“ nach Indien, um die Sache zu untersuchen. Dies ist ungefähr geradeso, als ob der verehrte Leser dieser Zeilen zu mir nach Wien kommen wollte, um sich zu überzeugen, dass mein Vetter in Amerika, von dem ich mitunter Briefe zu erhalten vorgebe, wirklich existiert und dass seine Briefe wirklich von ihm selber geschrieben sind. Da würde es doch vor allem nötig sein, dass der Vetter aus Amerika selber hierher käme, um dem Sachverständigen seine Identität zu beweisen.

Aber der „Vetter aus Amerika“ kam nicht, um die Neugierde des Herrn aus London zufrieden zu stellen, der „Sachverständige“, der von der ganzen Sache nichts verstand, sah seine Mission gescheitert; da er aber wohl oder übel einen Rapport über seine Sendung machen musste, um sich nicht blosszustellen, so schrieb er ein Buch über die Dinge, von denen er nichts gesehen hatte, stellte darin seine selbst erfundenen Theorien auf, wie diese Dinge vielleicht hätten gemacht werden können, und wie er sich vorstellte, dass sie gemacht worden sind. Dieser Rapport wurde von der betreffenden „Gespensteruntersuchungsgesellschaft“ angenommen und H. P. Blavatsky als „die grösste Betrügerin dieses Jahrhunderts“ erklärt, ohne dass ihr aber diese Erklärung in den Augen derjenigen, welche sie persönlich kannten, irgend etwas geschadet hätte.

Was aber diese vielgenannten okkulten Phänomene betrifft, so ist hier nicht die Stelle, darauf näher einzugehen. Würde man einem ungebildeten Bauern, der von Chemie absolut nichts versteht, eine Reihe von chemischen Experimenten zeigen, so würde er dieselben für Betrug und Taschenspielerei halten. Der grösste Gelehrte Europas aber steht diesen okkulten Phänomenen gegenüber wie ein ungebildeter Bauer, weil die moderne Wissenschaft von der Seele und ihren Kräften so viel wie nichts weiss. Erst wenn man die Gesetze der Chemie studiert hat, sind die chemischen Experimente verständlich. Erst wenn man die Gesetze der in der Menschennatur schlummernden Seelenkräfte kennen gelernt hat, kann man ihre sichtbaren Wirkungen begreifen. Was man heutzutage „Hypnotismus“ nennt, was aber schon längst Theophrastus Paracelsus und den Alten bekannt war, ist nur die Einleitung zu dieser höheren Naturwissenschaft.

Durch alle Zeitungen der Welt tobte der Kampf um die Entscheidung, ob H. P. Blavatsky eine Betrügerin sei oder nicht. Man durchstöberte die von ihr geschriebenen Romane, um auszufinden, ob die darin auftretenden Personen wirklich existiert hätten oder nicht, und jubilierte, wenn man in ihnen etwas fand, das erfunden war. Man befand sich dann in der Lage jenes Hinterwäldlers, welcher zum ersten Male ins Theater kam und sich dann für beschwindelt hielt, da es ihm gelungen war, auszufinden, dass die Häuser auf der Bühne bloss aus Pappendeckel gemacht seien, und dass die Schauspieler in der Komödie sich bloss so stellten, als hätten sie wirklich geheiratet.

Blicken wir heute auf jene Vorgänge zurück, so können wir uns des Lachens nicht erwehren, damals aber hatte die Sache ihre ernsthafte Seite. Jetzt ist H. P. Blavatsky tot und die von den ersten amerikanischen Journalen gegen sie ausgestreuten Verleumdungen sind widerrufen;*) ein Beispiel, dessen Nachahmung verschiedenen deutschen Journalen zu empfehlen wäre. Alle diese Verfolgungen waren direkt gegen H. P. Blavatsky und nur indirekt gegen die mit ihr unzertrennlich verbundene „theosophische Gesellschaft“ gerichtet; denn, was man auch immer an einzelnen Mitgliedern dieses Vereins, welche ja alle nur Menschen und mit menschlichen Schwächen behaftet sind, aussetzen mag, an den Grundsätzen dieser Gesellschaft ist nichts zu tadeln, da sie als ihr Höchstes die Wahrheit erkennt.

Alle gegen H. P. Blavatsky gerichteten Verfolgungen konnten somit dem Fortschritt der theosophischen Gesellschaft“ keinen Eintrag thun, im Gegenteil dienten sie dazu, den Ruf derselben über die ganze Welt zu verbreiten. Das Einzige, was der theosophischen Sache Eintrag gethan hat, ist der blinde Eifer von unverständigen Anhängern, welche dieselbe zu verteidigen suchten, ihrer Phantasie freien Lauf liessen und die übertriebensten Dinge von den Adepten behaupteten. Dies war aber nicht zu vermeiden, denn in einer Gesellschaft, wo beinahe jedermann Zutritt hat und jedem das Recht zusteht, seine Meinung, so gut er kann, zu vertreten, finden sich auch Ansichten aller Art. Die „theosophische Gesellschaft“ muss nicht mit einer Gesellschaft von fertigen Theosophen verwechselt werden. Sie ist, sozusagen, ein Erdreich, in welchem die Keime der Selbsterkenntnis verborgen liegen und aus welchem schliesslich nur verhältnismässig wenige Bäume wachsen. Wie bei jeder neuauftretenden Reform, so wurden auch hier Nachtvögel aller Art, Enthusiasten, Schwärmer und Fanatiker durch den Schimmer des neuentzündeten Lichtes angezogen und mancher vorübergehende Sturm war ihrer Gegenwart zu danken. Allmählich hat aber die Luft sich geklärt; diejenigen, welche nicht stark genug waren, das Licht zu ertragen, zogen sich in ihr Dunkel zurück; andere, welche fanden, dass der Verein keinen Boden zur Ausnutzung selbstsüchtiger oder politischer Zwecke lieferte, traten aus; die Mehrheit derjenigen dagegen, welche nach wirklicher Freiheit streben und glauben, dass man durch ein einiges Zusammenwirken mehr zum Besten der Menschheit wirken könne, als durch vereinzelte Bestrebungen, kommen herzu, und unter der Leitung von Col. Olcott in Indien, Mrs. Annie Besant in London und William. Q. Judge in Amerika geht der Verein seiner Zukunft entgegen.**)

Shakespeare sagt:

„Wenn alles auch der Sonn' entgegenreift, Was bald erblüht, wird frühe Früchte tragen.“

und die Bhagavad Gita sagt:

„Wer in der grossen Evolution der Welt nicht mitwirkt, der bleibt zurück.“


Der Zweck eines jeden Theosophen ist, Gutes zu wirken; vor allem aber die dazu nötige Erkenntnis und Kraft zu erlangen. Diese Kraft liegt in dem durch die Übung der Tugend erlangten höheren Selbstbewusst- sein, und das ist die einzige wahre Theosophie.




Hinweise

*) New-York. „Sun“. Oktober 1892.

**) Während des Schlusses dieser Nummer erhalten wir die Nachricht, dass sich auch in Steglitz bei Berlin ein von Dr. Hübbe-Schleiden gegründeter „theosophischer Verein“ gebildet hat, und wünschen wir demselben guten Erfolg. Dr. Hübbe-Schleiden ist als der Verfasser mehrerer Werke über deutsch-ostafrikanische Kolonien und als Redakteur der „Sphinx bekannt. Seine Bestrebungen werden dazu dienen, den Drang nach einem tieferen „transcendentalen“ Wissen anzuregen, und dadurch auch den Wunsch nach jener höheren Erleuchtung rege zu machen, welche der Mensch nicht selber erhaschen kann, die ihm aber zu teil wird, wenn er sich selbst überwindet.


(Lotusblüten, 1893, Band 1, S. 69-86)