Von Franz Hartmann
„Die grosse Wahrheit der Erkenntnis der Ursache aller
Leiden, o Bikkschus, ist nicht eine überlieferte Lehre, sondern in mir selbst
ging auf das Auge; es erwachte in mir die Erkenntnis; es offenbarte sich in mir
selber die Weisheit; es erschien in mir selber das Licht."
(Gautama Buddha.)
„Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben."
(St. Johannes. XV. 6.)
Die Theosophie im wahren Sinne des Wortes ist die
göttliche Selbsterkenntnis im Menschen, die Selbsterkenntnis der Wahrheit im
Menschen und in allem in der Natur. Um die Wahrheit zu erkennen, braucht man
nicht in die Ferne zu schweifen und in vielen Büchern zu forschen; man braucht
sie nur in sich selber zu finden, und der Mensch findet sie dadurch, dass sie
in ihm offenbar wird. Diese Kraft der Erkenntnis ist das wahre Leben, ihr
Besitzer der Gottmensch, welcher die Menschheit aus der Nacht der Unwissenheit
und des Irrtums erlöst, indem er in der ganzen Menschheit und im einzelnen
Menschen seine Auferstehung feiert; sie ist das Licht, durch dessen Offenbarung
Gautama ein Buddha, d. h. ein Erleuchteter wurde, und ohne das es keine wahre
Religion, keine wahre Philosophie, keine wahre Erkenntnis und keine wahre Wissenschaft
geben kann. Die Theosophie oder Gottesweisheit ist deshalb nicht ein System von
Glaubensartikeln oder eine neue Philosophie. Sie ist höher als alle Philosophie,
da sie nicht wie diese auf Spekulation, sondern auf Selbsterkenntnis beruht.
Sie ist diejenige Kraft, durch welche der Mensch, wenn er Liebe zur Wahrheit
besitzt, die Wahrheit in sich selber erkennen kann. Sie hat nicht den Zweck,
die Menschen von einem kirchlichen System zu einem anderen zu bekehren, sondern
sie ist ein göttliches Licht, das dazu dient, jeden zu befähigen, die Wahrheit
zu finden, welche in ihm selbst enthalten und in dem religiösen Systeme,
welches er befolgt, oder in seiner Philosophie dargestellt ist. Sie ist kein
menschliches Machwerk und kann ebensowenig als das Licht der Sonne von irgend jemandem
erfunden, erschaffen oder erzeugt werden, und wer sie nicht selbst besitzt,
wird auch in den besten Büchern vergeblich nach ihr suchen. Wer aber die
Weisheit besitzt, der erkennt sie auch in allem, was ihn umgiebt, und wie das
Licht der Sonne die ganze Natur durchdringt, und von jedem wahrgenommen werden
kann, der die hierzu nötigen Fähigkeiten besitzt, so kann auch das Licht der
göttlichen Weisheit, das die Seele des Menschen erleuchtet, von jedermann wahrgenommen
werden, wenn er nicht durch seine eigenen Irrtümer, verkehrten Anschauungen und
Begierden sich selber verhindert, dasselbe zu sehen.
Thomas von Kempis sagt:
-
„Wohl dem, den die Weisheit durch sich selbst
belehrt, nicht durch vergängliche Bilder und Worte, sondern so wie sie ihrem
Wesen nach ist."
Würde jeder Mensch der Stimme der in ihm wirkenden
göttlichen Vernunft Gehör schenken und die ewige Wahrheit in sich zur Offenbarungkommen
lassen, so hätte niemand nötig, Bücher zu lesen. Wer eigne Erkenntnis hat, braucht
keine Glaubensartikel und keine spekulative Philosophie. Da aber jeder, der diese
göttliche Selbsterkenntnis erlangt hat, ein Adept ist, und es nur wenige
Adepten giebt, während die weit überwiegende Mehrzahl der Menschen an teils
angeerbten, teils anerzogenen Vorurteilen und Irrtümern hängt, so bedarf die grosse
Mehrheit der Menschheit theosophischer Lehren, nicht um in ihnen ein Licht
leuchten zu lassen, das nur die Wahrheit selber erzeugen kann, sondern um die Hindernisse
aus dem Wege zu räumen, welche sich dieser Selbsterkenntnis der Wahrheit in den
Weg stellen; und dies geschieht dadurch, dass man im Menschen den Glauben an ein
höheres Dasein erweckt, indem man ihm eine höhere als die moderne „rationalistische“
Weltanschauung kennen lehrt, und diese höhere Weltanschauung findet sich in den
klassischen Schriften des Altertums, vor allem aber in den Religionsphilosophien
des Ostens, denen auch die christliche Bibel entstammt.
Es ist ein grosser Irrtum, die reine Theosophie oder göttliche
Selbsterkenntnis mit den aus ihr entspringenden Lehren, oder gar mit den Meinungen
und Ansichten einzelner Mitglieder der „theosophischen Gesellschaft“ zu verwechseln.
Der natürlich gewordene Mensch, welcher vom Lichte der Gotteserkonntnis
durchdrungen ist, erkennt Gott, sich selbst und die ganze Natur; dasjenige in
ihm, was erkennt, ist über alle Theorie und Spekulation erhaben; Gott in ihm
erkennt sich selbst und bedarf keiner Beweise und Schlussfolgerungen, um zu
wissen, was er selber ist. Die theosophischen Lehren dagegen, wenn sie auch der
Selbsterkenntnis desjenigen, der sie lehrt, entspringen, sind dagegen dennoch
nichts als Theorien für diejenigen, welche diese eigene Wahrnehmung und
Selbsterkenntnis nicht besitzen, und bleiben Theorien für jeden, bis dass er
ihre Wahrheit durch eigene Erfahrung bestätigt findet. Was aber die Meinungen der
einzelnen Mitglieder der „theosophischen Gesellschaft“ betrifft, so müssen
dieselben schon deshalb auseinandergehen, da diese Gesellschaft an keine
Glaubensartikel gebunden ist, und nicht bloss aus solchen Personen, die die
Wahrheit schon gefunden haben, sondern zum grössten Teile aus solchen, die nach
ihr suchen, besteht.
Der rechtgläubige Christ, welcher das „Licht der Welt“ in
seinem eigenen Herzen kennen gelernt hat; der wirkliche Buddhist, welcher durch
dieses Licht ein Buddha, d. h. ein „Erleuchteter“ geworden ist; der Brahmine, der
in Wahrheit allein in Brahma seine Zuflucht gefunden hat, alle diese haben
keine theosophischen Spekulationen oder Theorien nötig; denn sie erkennen die
Wahrheit, und wer die Wahrheit erkennt, braucht keinen anderen Lehrmeister. Wer
schon zum wahren göttlichen Leben erwacht ist und die Unsterblichkeit in sich
selber gefunden hat, der braucht nicht erst darauf hingewiesen zu werden, dass es
ein solches Erwachen giebt, oder sich eine Meinung darüber zu bilden, ob der
Mensch unsterblich sein kann oder nicht.
Solcher wahren Gläubigen, welche Gotteserkenntnis
besitzen, giebt es aber heutzutage sehr wenige. Die Mehrzahl der Frommen hängt an
den Äusserlichkeiten ihrer Religion, hängt sich an den Buchstaben und vergisst darüber
den Geist, und verhindert sich durch die übergrosse Wahrung der Form, in das Geheimnis
zu dringen, welches in den Formen verborgen ist, und die Kraft zu erlangen, welche
durch äussere Bilder und Allegorien sinnbildlich dargestellt ist; während die
Feinde der Wahrheit, welche in jeder Religion überhaupt nur das äussere Gewand
sehen können, die Religion verwerfen, weil sie den Kern darin nicht zu begreifen
imstande sind. Die moderne Philosophie hält die Befriedigung der wissenschaftlichen
Neugierde für den höchsten Grad von geistiger Erkenntnis; unsere „rationellen“
Philosophen zerbrechen sich die Köpfe über Dinge, welche sie eigentlich nichts angehen,
da sie dasjenige, was sie zu erkennen wünschen, weder selber sind, noch sich bestreben,
es zu werden; es ist aber wohl selbstverständlich, dass man nur von demjenigen,
was man selber ist und selber besitzt, und nicht von dem, wovon man keine
Erfahrung hat, wirkliche Selbsterkenntnis erlangen kann. Was die Naturwissenschaften
betrifft, so erfüllen sie ihren Zweck, wenn sie sich mit den Verhältnissen der
Dinge untereinander befassen, welche wir in dieser Erscheinungswelt, welche wir
„Natur“ nennen, finden. Wenn die „Wissenschaft“ sich aber anmasst, über Dinge zu
urteilen, welche ausserhalb des Bereiches ihrer Erkenntnisfähigkeit liegen,
oder gar dasjenige ableugnet, was sie nicht sehen oder begreifen kann, dann ist
sie auch keine Wissenschaft mehr, sondern eine Thorheit.
Die theosophischen Lehren legen uns die Wahrheit dar, wie
sie sich denjenigen, in denen sie sich geoffenbart hat, zeigte; wie aber auch die
ausführlichste Theorie über die Natur des Lichtes und dessen Schwingungen uns
das Sehen nicht ersetzen könnte, wenn wir blind wären, so können auch die
erhabensten Lehren der Weisheit demjenigen keine Selbsterkenntnis verschaffen,
welcher das Gefühl für die Wahrheit nicht selber besitzt. Auch gehört zu ihrem
Verständnisse durchaus nicht dasjenige, was man „moderne Bildung“ nennt, und
welches in dem Besitz eines Wirrwarrs von auf Autoritätenglauben beruhender Meinungen
besteht. „Je gelehrter, desto verkehrter“, ist ein Sprichwort, dessen Bestätigung
wir täglich vor Augen haben. Wie der Geizhals an seinem Bettelsack, die Magd an
ihrem Putz, der Narr an seinen Wahnvorstellungen hängt, so ist der moderne
Philosoph von seinen Theorien und Hypothesen befangen, die er sich entweder in
seiner Phantasie ausgeklügelt hat, oder anderen, die dieselben erfunden haben,
nachbetet, ohne daran zu denken, dass das, was vor verhältnismässig wenigen Jahren
als Wissenschaft vor der Welt paradierte, heutzutage zum Kindergespött geworden
ist, und dass vielleicht dasjenige, was man heutzutage noch nicht begreifen
kann, die Grundlage der Wissenschaft kommender Jahrhunderte bilden wird.
Um die reine Theosophie zu erlangen, dazu gehört keine Gelehrsamkeit,
sondern nichts weiter als die Eekenntnis, d. h. das Einströmen des Lichtes der
Sonne der ewigen Weisheit, oder mit anderen Worten, die Empfängnis des heiligen
Geistes in der menschlichen Seele; und damit diese Empfängnis stattfinden kann,
muss die Seele unbefleckt sein von niedrigen Begierden, rein von Eigendünkel,
Eigenwille und Schwärmerei. Wem seine Hirngespinnste lieber sind als die Erkenntnis
der Wahrheit, der lebt in seinen Hirngespinnsten und verschliesst sein Herz dem
Lichte der göttlichen Weisheit. Von Ewigkeit schien dieses Licht in das Dunkel,
aber das Dunkel kann das Licht nicht erkennen; das Licht kann nur von
leuchtenden Wesen begriffen werden; wo es sich offenbart, da hört das Dunkel auf
zu sein. Das Licht der ewigen Wahrheit ist überall, in uns selber sowohl als
ausserhalb unseres Körpers; alles, was wir in der Natur sehen, ist eine
Offenbarung der Wahrheit, aber solange wir die Wahrheit nicht in unserm eigenen
Innern entdeckt haben, können wir sie auch in äusseren Dingen nicht erkennen.
Solange wir selbst als wesenlose Schatten ohne innere Kraft im Schattenspiele dieser
Welt eine Rolle spielen wollen und uns dabei für etwas Grosses und Besonderes halten,
solange bestehen wir selbst aus dem Dunkel, welches das Licht nicht erkennen kann;
erst wenn wir unsere eigene Persönlichkeit als ein Nichts erkannt haben, als
eine Seifenblase, die eine Zeitlang in schillernden Farben glänzt und am Ende
platzt, erst dann kann das Licht, welches allen Dingen ihre Farbe verleiht, in
uns selbst und wir durch das Licht zur wahren Erkenntnis gelangen.
Das Aufgeben des eigenen scheinbaren Selbst, um dadurch
zum wahren Selbst zu gelangen, die Aufopferung der Menschheit in uns auf dem
Altare der Gottheit, die uns, ohne dass wir es wissen, durchdringt, und alles
in allem erfüllt, das Verlassen aller persönlichen Wünsche und Begierden, um in
ewigen Idealen allein seine Zuflucht zu nehmen und dieses in sich selbst zur
Verwirklichung kommen zu lassen, ist die Grundlage jeder wahren Religion und
Philosophie, und die hierzu nötigen Ratschläge finden sich in der Bibel und in
den Schriften der Heiligen, und besonders klar und deutlich in der Bhagavad
Gita und in den heiligen Büchern des Altertums.
Wer den tiefen Sinn der Religionsgeheimnisse, welche in
der Bibel enthalten sind, erkennt, der braucht sich allerdings nicht an die Weisen
des Altertums zu wenden, um den Weg zur göttlichen Selbsterkenntnis zu finden;
es wird aber jeder, der den heutigen Kulturzustand in Europa zu beurteilen
fähig ist, zugeben müssen, dass das geistige Verständnis der Bibel unter den
Gebildeten heutzutage so gesunken ist, dass dieselbe nur als ein Buch voller
Fabeln und Allegorien, als eine „jüdische Geschichte“, als eine, auf das jetzige
Zeitalter nicht mehr passende Morallehre betrachtet wird. Um die Dinge, von denen
es sich in der Bibel handelt, dem gewöhnlichen Menschenverstande näher zu
bringen, sich dadurch zu einer höheren Weltanschauung aufzuschwingen und sein
Gemüt der göttlichen Erleuchtung zugänglich zu machen, dazu genügt nicht die
Auslegung derjenigen, welche den Schlüssel zu den Geheimnissen, als deren Hüter
sie bestellt sind, verloren haben, dazu dienen die Aufklärungen derjenigen, bei
denen die Religion nicht bloss eine Gefühlsschwärmerei, sondern eine durch Erfahrung
bestätigte exakte Wissenschaft war. Die vergleichende Theologie ist eine in Deutschland
noch beinahe unbekannte Wissenschaft, und dennoch kann derjenige, welcher noch
keine eigene Erkenntnis besitzt, nur durch eine Vergleichung der verschiedenen Formen,
in welchen ihm ein und dieselbe Wahrheit geboten wird, dazu gelangen, diese Wahrheit
selbst zu entdecken. Es giebt nur eine einzige ewige Wahrheit, und sie ist in den
verschiedenen Religionssystemen in verschiedenen Formen dargestellt. Eine Vergleichung
dieser verschiedenen Formen, in welche die Wahrheit gekleidet ist, dient dazu, zwischen
dem, was den Formen, und dem, was der Wahrheit selbst angehört, unterscheiden
zu lernen und, indem wir uns von der Täuschung der Formen befreien, den Geist der
Wahrheit zu befähigen, sich uns zu enthüllen.
Wenn wir aber den wahren Geist, der in den Vedas und
Puranas, in den Upanishads, dem Mahabharata und der Bhagavad Gita lebt, kennen
lernen wollen, so werden wir uns schwerlich an die europäischen Philologen
wenden, welche uns wohl eine Übersetzung von Worten, nicht aber eine Wiedergabe
des Sinnes derselben geben können, solange sie den Sinn derselben selbst nicht
zu begreifen imstande sind. Eine Wissenschaft oder Philosophie ohne Weisheit,
d. h. ohne die Erkenntnis der allem Wissen zugrunde liegenden Wahrheit, ist ein
leerer Schein, und so ist auch die Erklärung von Schriften, deren geheimen oder
tieferen Sinn der Erklärende selbst nicht versteht, ein Dreschen von leerem
Stroh, wie die unsinnigen Kommentare, welche den meisten Übersetzungen
orientalischer Werke angehängt sind, beweisen.
Die wahre Theosophie umfasst das ganze Gebiet des
Wissens. Wenn Gott sich im Menschen und dadurch der Mensch sich in Gott erkennt,
so erkennt er sich selbst als das Ganze und das ganze Weltall als eine Erscheinung
seiner geistigen Natur. Die theosophischen Lehren beziehen sich deshalb auf die
Erkenntnis der Wahrheit in allen Dingen, abgesehen von ihren äusseren Erscheinungen,
deren Beobachtung in das Gebiet der Wissenschaft des Scheines gehört. Sie
weisen uns daraufhin, was der Mensch seinem wahren Wesen nach ist, und was die
Welt ist, in welcher er sich als eine vorübergehende Erscheinung bewegt. Sie
unterrichten uns über den Ursprung und die Bestimmung des geistigen Menschen, über
die Zusammensetzung der Organisation, in welcher er wohnt, und über das Schicksal,
welchem die einzelnen Teile oder Elemente, aus denen seine Natur besteht, nach der
Auflösung des Bandes, welches diese Kräfte zu einem Ganzen verbindet,
verfallen. Sie lehren uns, dass der wirkliche und wesentliche Mensch nicht die
begrenzte Erscheinung ist, unter welcher er sich unseren Sinnen darstellt, sondern
ein viel höheres Wesen, das sich in dieser Erscheinung, welche seine „Person"
darstellt, offenbart, dessen Dasein aber nicht auf das Dasein dieser
persönlichen Erscheinung beschränkt ist, das in ihrem innersten Wesen
unsterblich ist und sich dieser Unsterblichkeit bewusst zu werden vermag. Sie
lehren uns, dass der Zweck des menschlichen Daseins ist: dass er zur
Selbsterkenntnis seiner wahren göttlichen Natur gelange und dass er, solange er
diese Selbsterkenntnis nicht erlangt hat, immer wieder eine neue Rolle in dieser
Welt der Erscheinungen spielen muss, angezogen durch seine Begierde zum Leben, bis
dass er endlich sein „Ich“ den Erlöser, d.h. den Gottmenschen in sich selber
gefunden hat und dadurch zur Selbsterkenntnis und Freiheit gelangt ist. Sie
lehren uns, dass die Gesetze des Karma, d.h. der göttlichen Gerechtigkeit, unabänderlich
sind, dass das, was der Mensch säet, er in diesem oder im zukünftigen Leben ernten
wird, und dass es keine andere Vergebung der Sünden giebt, als diejenige,
welche eintritt, wenn der Mensch durch eine Vereinigung mit seiner göttlichen
Natur sich von seinem eigenen täuschenden, sündhaften „Selbst“ befreit.
Würde der Mensch Gott in sich selbst und in der ganzen Menschheit
erkennen, so würde er dadurch zu einem höheren Selbstbewusstsein, zu einer
Erkenntnis seiner wahren Menschenwürde gelangen. Die Welt schwärmt von
Reformern, welche den Baum der Menschheit durch äusserliche Beschneidung
verbessern wollen. Europa ist von Kriegen bedroht und vergeblich suchen die Friedensfreunde
den bewaffneten Frieden, welcher ebenso schlimm ist als der unbewaffnete Krieg,
abzuschaffen, da doch hierzu vor allem die wahre Erkenntnis gehört. Das Kapital
ist mit der Arbeit im Streit, weil die eine sowohl als die andere Seite vor
allem auf ihren eigenen Vorteil bedacht ist. Eine Horde von Unvernünftigen
lässt unter der Maske der Religion und Humanität ihren Leidenschaften die Zügel
schiessen, und missbraucht den Namen des Christentums zu Zwecken, welche dem
Geiste desselben geradezu entgegengesetzt sind. Überall herrscht Eigendünkel
und Selbstsucht und die Gier nach dem, was vergänglich ist und keinen
wirklichen Wert besitzt. Würde die Mehrzahl der Menschen auch nur eine Ahnung
ihrer eigenen höheren Natur haben, so würden alle die Übel, die man jetzt vergebens
gewaltsam beseitigen will, von selbst aufhören, da ihnen die Wurzel, aus der sie
entspringen, entzogen würde; die Erkenntnis allgemeiner Menschenrechte würde an
die Stelle der Vorrechte von Nationen und Klassen treten, und wir könnten ein
Reich der Vereinigten Staaten von Europa bilden, ein Reich des Friedens, in
welchem der wahre Fortschritt gedeihen hönnte. Es hindert uns nichts daran, als
die Verkehrtheit unserer ei genen Anschauung, infolge deren wir nichts sehen
als das eigene täuschende vergängliche Selbst, und was auf dasselbe Bezug hat.
Es giebt für die Menschheit kein anderes Heil, keine andere
Erlösung als in Gott, aber der Gott, der allein uns befreien kann, ist nicht
der Gott der populären Theologie, welcher ausserhalb der Welt existiert, je nach
seiner Laune handelt und sich durch Petitionen bewegen lässt, nach menschlichem
Willen zu handeln. Wie jeder Baum, jedes Tier nur durch diejenige Kraft genährt
und erhalten wird, welche in seinem eigenen Organismus als Leben wirkt, so kann
auch der Mensch nur durch dasjenige Licht, welches in ihm selbst offenbar wird,
zur wahren Erkenntnis, zum Bewusstsein seiner menschlichen und göttlichen Würde
gelangen.
Dieses höhere Selbstbewusstsein kann nicht durch eine
forcierte religiöse Erziehung erweckt werden, welche in dem Einbläuen von
missverstandenen Dogmen und der äusserlichen Befolgung kirchlicher Gebräuche
besteht, auch nicht durch die Begünstigung eines Kirchentums, welches Christus zum
Kirchendiener gemacht hat, um weltlichen Interessen zu dienen, auch durch keine
Erziehung, welche den Menschen unselbständig macht, indem sie ihn darauf hinweist,
sein Heil in irgend etwas anderem als in der in ihm selbst wirkenden Kraft des göttlichen
Geistes zu suchen. Ist aber der Mensch einmal dahingekommen, in sich selbst
nach der Freiheit von allem, das ihn erniedrigt, zu suchen, und seine eigene Welt
kennen zu lernen und zu beherrschen; dann wird er auch in seiner Seele schlummernde
Kräfte entdecken, von denen die moderne Wissenschaft nichts weiss, die aber nur
erweckt werden, um aus ihm, dem Wurm der Erde, einen Herrscher des Himmels und
der Erde zu machen, dem seine ganze Natur unterthan ist.
Seit der Ausbreitung der „theosophischen Gesellschaft“ in
Indien haben sich eine Menge der kostbarsten litterarischen Schätze in Bezug
auf Kosmologie, Anthropologie usw. unserer Forschung eröffnet, welche früher
den Europäern verborgen waren; denn bei den Indiern gilt mehr als bei andern der
Grundsatz, dass man sich heiligen und erhabenen Dingen nicht anders als mit
erhabenem Gemüte nahen soll, und es ist leicht zu begreifen, dass die Brahminen
nur mit scheelem Auge auf die Profanation und Verunstaltung ihrer heiligen
Bücher durch unheilige und skeptisch denkende „Orientalisten“ sahen. Da aber
der erste Grundsatz und einzige Glaubensartikel dieser Vereinigung die
Gleichberechtigung aller Menschen vor dem Throne der Wahrheit ist, so hat auch
die darausfolgende Verbrüderung zwischen dem Osten und dem Westen dazu gedient,
die Schranken niederzureissen, welche Jahrhunderte der Intoleranz und
Bigotterie zwischen ihnen aufgebaut hatten, und während das moderne Kirchentum
Europas, welches fast nur mehr als Modesache besteht, seinem Zerfalle
entgegengeht, entzündet sich für uns eine neue Leuchte im Osten, ein Licht verbreitend,
welches keine sektiererischen Bestrebungen kennt, welches den Christen und
Juden, Brahminen, Buddhisten und allen genügen kann, das Licht der Wahrheit,
dessen Erkenntnis die Weisheit ist.
(Lotusblüten, 1893, Band 1, S. 87-105)