Hinweis: Ich habe in anderen Sprachen viele interessante Artikel verfasst,
die Sie in diesen Links lesen können: Teil 1 und Teil 2.

2.11.18

DIE THEOSOPHISCHEN LEHREN



Von Franz Hartmann

„Die grosse Wahrheit der Erkenntnis der Ursache aller Leiden, o Bikkschus, ist nicht eine überlieferte Lehre, sondern in mir selbst ging auf das Auge; es erwachte in mir die Erkenntnis; es offenbarte sich in mir selber die Weisheit; es erschien in mir selber das Licht."
(Gautama Buddha.)

„Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben."
(St. Johannes. XV. 6.)


Die Theosophie im wahren Sinne des Wortes ist die göttliche Selbsterkenntnis im Menschen, die Selbsterkenntnis der Wahrheit im Menschen und in allem in der Natur. Um die Wahrheit zu erkennen, braucht man nicht in die Ferne zu schweifen und in vielen Büchern zu forschen; man braucht sie nur in sich selber zu finden, und der Mensch findet sie dadurch, dass sie in ihm offenbar wird. Diese Kraft der Erkenntnis ist das wahre Leben, ihr Besitzer der Gottmensch, welcher die Menschheit aus der Nacht der Unwissenheit und des Irrtums erlöst, indem er in der ganzen Menschheit und im einzelnen Menschen seine Auferstehung feiert; sie ist das Licht, durch dessen Offenbarung Gautama ein Buddha, d. h. ein Erleuchteter wurde, und ohne das es keine wahre Religion, keine wahre Philosophie, keine wahre Erkenntnis und keine wahre Wissenschaft geben kann. Die Theosophie oder Gottesweisheit ist deshalb nicht ein System von Glaubensartikeln oder eine neue Philosophie. Sie ist höher als alle Philosophie, da sie nicht wie diese auf Spekulation, sondern auf Selbsterkenntnis beruht. Sie ist diejenige Kraft, durch welche der Mensch, wenn er Liebe zur Wahrheit besitzt, die Wahrheit in sich selber erkennen kann. Sie hat nicht den Zweck, die Menschen von einem kirchlichen System zu einem anderen zu bekehren, sondern sie ist ein göttliches Licht, das dazu dient, jeden zu befähigen, die Wahrheit zu finden, welche in ihm selbst enthalten und in dem religiösen Systeme, welches er befolgt, oder in seiner Philosophie dargestellt ist. Sie ist kein menschliches Machwerk und kann ebensowenig als das Licht der Sonne von irgend jemandem erfunden, erschaffen oder erzeugt werden, und wer sie nicht selbst besitzt, wird auch in den besten Büchern vergeblich nach ihr suchen. Wer aber die Weisheit besitzt, der erkennt sie auch in allem, was ihn umgiebt, und wie das Licht der Sonne die ganze Natur durchdringt, und von jedem wahrgenommen werden kann, der die hierzu nötigen Fähigkeiten besitzt, so kann auch das Licht der göttlichen Weisheit, das die Seele des Menschen erleuchtet, von jedermann wahrgenommen werden, wenn er nicht durch seine eigenen Irrtümer, verkehrten Anschauungen und Begierden sich selber verhindert, dasselbe zu sehen.

Thomas von Kempis sagt:

-       „Wohl dem, den die Weisheit durch sich selbst belehrt, nicht durch vergängliche Bilder und Worte, sondern so wie sie ihrem Wesen nach ist."

Würde jeder Mensch der Stimme der in ihm wirkenden göttlichen Vernunft Gehör schenken und die ewige Wahrheit in sich zur Offenbarungkommen lassen, so hätte niemand nötig, Bücher zu lesen. Wer eigne Erkenntnis hat, braucht keine Glaubensartikel und keine spekulative Philosophie. Da aber jeder, der diese göttliche Selbsterkenntnis erlangt hat, ein Adept ist, und es nur wenige Adepten giebt, während die weit überwiegende Mehrzahl der Menschen an teils angeerbten, teils anerzogenen Vorurteilen und Irrtümern hängt, so bedarf die grosse Mehrheit der Menschheit theosophischer Lehren, nicht um in ihnen ein Licht leuchten zu lassen, das nur die Wahrheit selber erzeugen kann, sondern um die Hindernisse aus dem Wege zu räumen, welche sich dieser Selbsterkenntnis der Wahrheit in den Weg stellen; und dies geschieht dadurch, dass man im Menschen den Glauben an ein höheres Dasein erweckt, indem man ihm eine höhere als die moderne „rationalistische“ Weltanschauung kennen lehrt, und diese höhere Weltanschauung findet sich in den klassischen Schriften des Altertums, vor allem aber in den Religionsphilosophien des Ostens, denen auch die christliche Bibel entstammt.

Es ist ein grosser Irrtum, die reine Theosophie oder göttliche Selbsterkenntnis mit den aus ihr entspringenden Lehren, oder gar mit den Meinungen und Ansichten einzelner Mitglieder der „theosophischen Gesellschaft“ zu verwechseln. Der natürlich gewordene Mensch, welcher vom Lichte der Gotteserkonntnis durchdrungen ist, erkennt Gott, sich selbst und die ganze Natur; dasjenige in ihm, was erkennt, ist über alle Theorie und Spekulation erhaben; Gott in ihm erkennt sich selbst und bedarf keiner Beweise und Schlussfolgerungen, um zu wissen, was er selber ist. Die theosophischen Lehren dagegen, wenn sie auch der Selbsterkenntnis desjenigen, der sie lehrt, entspringen, sind dagegen dennoch nichts als Theorien für diejenigen, welche diese eigene Wahrnehmung und Selbsterkenntnis nicht besitzen, und bleiben Theorien für jeden, bis dass er ihre Wahrheit durch eigene Erfahrung bestätigt findet. Was aber die Meinungen der einzelnen Mitglieder der „theosophischen Gesellschaft“ betrifft, so müssen dieselben schon deshalb auseinandergehen, da diese Gesellschaft an keine Glaubensartikel gebunden ist, und nicht bloss aus solchen Personen, die die Wahrheit schon gefunden haben, sondern zum grössten Teile aus solchen, die nach ihr suchen, besteht.

Der rechtgläubige Christ, welcher das „Licht der Welt“ in seinem eigenen Herzen kennen gelernt hat; der wirkliche Buddhist, welcher durch dieses Licht ein Buddha, d. h. ein „Erleuchteter“ geworden ist; der Brahmine, der in Wahrheit allein in Brahma seine Zuflucht gefunden hat, alle diese haben keine theosophischen Spekulationen oder Theorien nötig; denn sie erkennen die Wahrheit, und wer die Wahrheit erkennt, braucht keinen anderen Lehrmeister. Wer schon zum wahren göttlichen Leben erwacht ist und die Unsterblichkeit in sich selber gefunden hat, der braucht nicht erst darauf hingewiesen zu werden, dass es ein solches Erwachen giebt, oder sich eine Meinung darüber zu bilden, ob der Mensch unsterblich sein kann oder nicht.

Solcher wahren Gläubigen, welche Gotteserkenntnis besitzen, giebt es aber heutzutage sehr wenige. Die Mehrzahl der Frommen hängt an den Äusserlichkeiten ihrer Religion, hängt sich an den Buchstaben und vergisst darüber den Geist, und verhindert sich durch die übergrosse Wahrung der Form, in das Geheimnis zu dringen, welches in den Formen verborgen ist, und die Kraft zu erlangen, welche durch äussere Bilder und Allegorien sinnbildlich dargestellt ist; während die Feinde der Wahrheit, welche in jeder Religion überhaupt nur das äussere Gewand sehen können, die Religion verwerfen, weil sie den Kern darin nicht zu begreifen imstande sind. Die moderne Philosophie hält die Befriedigung der wissenschaftlichen Neugierde für den höchsten Grad von geistiger Erkenntnis; unsere „rationellen“ Philosophen zerbrechen sich die Köpfe über Dinge, welche sie eigentlich nichts angehen, da sie dasjenige, was sie zu erkennen wünschen, weder selber sind, noch sich bestreben, es zu werden; es ist aber wohl selbstverständlich, dass man nur von demjenigen, was man selber ist und selber besitzt, und nicht von dem, wovon man keine Erfahrung hat, wirkliche Selbsterkenntnis erlangen kann. Was die Naturwissenschaften betrifft, so erfüllen sie ihren Zweck, wenn sie sich mit den Verhältnissen der Dinge untereinander befassen, welche wir in dieser Erscheinungswelt, welche wir „Natur“ nennen, finden. Wenn die „Wissenschaft“ sich aber anmasst, über Dinge zu urteilen, welche ausserhalb des Bereiches ihrer Erkenntnisfähigkeit liegen, oder gar dasjenige ableugnet, was sie nicht sehen oder begreifen kann, dann ist sie auch keine Wissenschaft mehr, sondern eine Thorheit.

Die theosophischen Lehren legen uns die Wahrheit dar, wie sie sich denjenigen, in denen sie sich geoffenbart hat, zeigte; wie aber auch die ausführlichste Theorie über die Natur des Lichtes und dessen Schwingungen uns das Sehen nicht ersetzen könnte, wenn wir blind wären, so können auch die erhabensten Lehren der Weisheit demjenigen keine Selbsterkenntnis verschaffen, welcher das Gefühl für die Wahrheit nicht selber besitzt. Auch gehört zu ihrem Verständnisse durchaus nicht dasjenige, was man „moderne Bildung“ nennt, und welches in dem Besitz eines Wirrwarrs von auf Autoritätenglauben beruhender Meinungen besteht. „Je gelehrter, desto verkehrter“, ist ein Sprichwort, dessen Bestätigung wir täglich vor Augen haben. Wie der Geizhals an seinem Bettelsack, die Magd an ihrem Putz, der Narr an seinen Wahnvorstellungen hängt, so ist der moderne Philosoph von seinen Theorien und Hypothesen befangen, die er sich entweder in seiner Phantasie ausgeklügelt hat, oder anderen, die dieselben erfunden haben, nachbetet, ohne daran zu denken, dass das, was vor verhältnismässig wenigen Jahren als Wissenschaft vor der Welt paradierte, heutzutage zum Kindergespött geworden ist, und dass vielleicht dasjenige, was man heutzutage noch nicht begreifen kann, die Grundlage der Wissenschaft kommender Jahrhunderte bilden wird.

Um die reine Theosophie zu erlangen, dazu gehört keine Gelehrsamkeit, sondern nichts weiter als die Eekenntnis, d. h. das Einströmen des Lichtes der Sonne der ewigen Weisheit, oder mit anderen Worten, die Empfängnis des heiligen Geistes in der menschlichen Seele; und damit diese Empfängnis stattfinden kann, muss die Seele unbefleckt sein von niedrigen Begierden, rein von Eigendünkel, Eigenwille und Schwärmerei. Wem seine Hirngespinnste lieber sind als die Erkenntnis der Wahrheit, der lebt in seinen Hirngespinnsten und verschliesst sein Herz dem Lichte der göttlichen Weisheit. Von Ewigkeit schien dieses Licht in das Dunkel, aber das Dunkel kann das Licht nicht erkennen; das Licht kann nur von leuchtenden Wesen begriffen werden; wo es sich offenbart, da hört das Dunkel auf zu sein. Das Licht der ewigen Wahrheit ist überall, in uns selber sowohl als ausserhalb unseres Körpers; alles, was wir in der Natur sehen, ist eine Offenbarung der Wahrheit, aber solange wir die Wahrheit nicht in unserm eigenen Innern entdeckt haben, können wir sie auch in äusseren Dingen nicht erkennen. Solange wir selbst als wesenlose Schatten ohne innere Kraft im Schattenspiele dieser Welt eine Rolle spielen wollen und uns dabei für etwas Grosses und Besonderes halten, solange bestehen wir selbst aus dem Dunkel, welches das Licht nicht erkennen kann; erst wenn wir unsere eigene Persönlichkeit als ein Nichts erkannt haben, als eine Seifenblase, die eine Zeitlang in schillernden Farben glänzt und am Ende platzt, erst dann kann das Licht, welches allen Dingen ihre Farbe verleiht, in uns selbst und wir durch das Licht zur wahren Erkenntnis gelangen.

Das Aufgeben des eigenen scheinbaren Selbst, um dadurch zum wahren Selbst zu gelangen, die Aufopferung der Menschheit in uns auf dem Altare der Gottheit, die uns, ohne dass wir es wissen, durchdringt, und alles in allem erfüllt, das Verlassen aller persönlichen Wünsche und Begierden, um in ewigen Idealen allein seine Zuflucht zu nehmen und dieses in sich selbst zur Verwirklichung kommen zu lassen, ist die Grundlage jeder wahren Religion und Philosophie, und die hierzu nötigen Ratschläge finden sich in der Bibel und in den Schriften der Heiligen, und besonders klar und deutlich in der Bhagavad Gita und in den heiligen Büchern des Altertums.

Wer den tiefen Sinn der Religionsgeheimnisse, welche in der Bibel enthalten sind, erkennt, der braucht sich allerdings nicht an die Weisen des Altertums zu wenden, um den Weg zur göttlichen Selbsterkenntnis zu finden; es wird aber jeder, der den heutigen Kulturzustand in Europa zu beurteilen fähig ist, zugeben müssen, dass das geistige Verständnis der Bibel unter den Gebildeten heutzutage so gesunken ist, dass dieselbe nur als ein Buch voller Fabeln und Allegorien, als eine „jüdische Geschichte“, als eine, auf das jetzige Zeitalter nicht mehr passende Morallehre betrachtet wird. Um die Dinge, von denen es sich in der Bibel handelt, dem gewöhnlichen Menschenverstande näher zu bringen, sich dadurch zu einer höheren Weltanschauung aufzuschwingen und sein Gemüt der göttlichen Erleuchtung zugänglich zu machen, dazu genügt nicht die Auslegung derjenigen, welche den Schlüssel zu den Geheimnissen, als deren Hüter sie bestellt sind, verloren haben, dazu dienen die Aufklärungen derjenigen, bei denen die Religion nicht bloss eine Gefühlsschwärmerei, sondern eine durch Erfahrung bestätigte exakte Wissenschaft war. Die vergleichende Theologie ist eine in Deutschland noch beinahe unbekannte Wissenschaft, und dennoch kann derjenige, welcher noch keine eigene Erkenntnis besitzt, nur durch eine Vergleichung der verschiedenen Formen, in welchen ihm ein und dieselbe Wahrheit geboten wird, dazu gelangen, diese Wahrheit selbst zu entdecken. Es giebt nur eine einzige ewige Wahrheit, und sie ist in den verschiedenen Religionssystemen in verschiedenen Formen dargestellt. Eine Vergleichung dieser verschiedenen Formen, in welche die Wahrheit gekleidet ist, dient dazu, zwischen dem, was den Formen, und dem, was der Wahrheit selbst angehört, unterscheiden zu lernen und, indem wir uns von der Täuschung der Formen befreien, den Geist der Wahrheit zu befähigen, sich uns zu enthüllen.

Wenn wir aber den wahren Geist, der in den Vedas und Puranas, in den Upanishads, dem Mahabharata und der Bhagavad Gita lebt, kennen lernen wollen, so werden wir uns schwerlich an die europäischen Philologen wenden, welche uns wohl eine Übersetzung von Worten, nicht aber eine Wiedergabe des Sinnes derselben geben können, solange sie den Sinn derselben selbst nicht zu begreifen imstande sind. Eine Wissenschaft oder Philosophie ohne Weisheit, d. h. ohne die Erkenntnis der allem Wissen zugrunde liegenden Wahrheit, ist ein leerer Schein, und so ist auch die Erklärung von Schriften, deren geheimen oder tieferen Sinn der Erklärende selbst nicht versteht, ein Dreschen von leerem Stroh, wie die unsinnigen Kommentare, welche den meisten Übersetzungen orientalischer Werke angehängt sind, beweisen.

Die wahre Theosophie umfasst das ganze Gebiet des Wissens. Wenn Gott sich im Menschen und dadurch der Mensch sich in Gott erkennt, so erkennt er sich selbst als das Ganze und das ganze Weltall als eine Erscheinung seiner geistigen Natur. Die theosophischen Lehren beziehen sich deshalb auf die Erkenntnis der Wahrheit in allen Dingen, abgesehen von ihren äusseren Erscheinungen, deren Beobachtung in das Gebiet der Wissenschaft des Scheines gehört. Sie weisen uns daraufhin, was der Mensch seinem wahren Wesen nach ist, und was die Welt ist, in welcher er sich als eine vorübergehende Erscheinung bewegt. Sie unterrichten uns über den Ursprung und die Bestimmung des geistigen Menschen, über die Zusammensetzung der Organisation, in welcher er wohnt, und über das Schicksal, welchem die einzelnen Teile oder Elemente, aus denen seine Natur besteht, nach der Auflösung des Bandes, welches diese Kräfte zu einem Ganzen verbindet, verfallen. Sie lehren uns, dass der wirkliche und wesentliche Mensch nicht die begrenzte Erscheinung ist, unter welcher er sich unseren Sinnen darstellt, sondern ein viel höheres Wesen, das sich in dieser Erscheinung, welche seine „Person" darstellt, offenbart, dessen Dasein aber nicht auf das Dasein dieser persönlichen Erscheinung beschränkt ist, das in ihrem innersten Wesen unsterblich ist und sich dieser Unsterblichkeit bewusst zu werden vermag. Sie lehren uns, dass der Zweck des menschlichen Daseins ist: dass er zur Selbsterkenntnis seiner wahren göttlichen Natur gelange und dass er, solange er diese Selbsterkenntnis nicht erlangt hat, immer wieder eine neue Rolle in dieser Welt der Erscheinungen spielen muss, angezogen durch seine Begierde zum Leben, bis dass er endlich sein „Ich“ den Erlöser, d.h. den Gottmenschen in sich selber gefunden hat und dadurch zur Selbsterkenntnis und Freiheit gelangt ist. Sie lehren uns, dass die Gesetze des Karma, d.h. der göttlichen Gerechtigkeit, unabänderlich sind, dass das, was der Mensch säet, er in diesem oder im zukünftigen Leben ernten wird, und dass es keine andere Vergebung der Sünden giebt, als diejenige, welche eintritt, wenn der Mensch durch eine Vereinigung mit seiner göttlichen Natur sich von seinem eigenen täuschenden, sündhaften „Selbst“ befreit.

Würde der Mensch Gott in sich selbst und in der ganzen Menschheit erkennen, so würde er dadurch zu einem höheren Selbstbewusstsein, zu einer Erkenntnis seiner wahren Menschenwürde gelangen. Die Welt schwärmt von Reformern, welche den Baum der Menschheit durch äusserliche Beschneidung verbessern wollen. Europa ist von Kriegen bedroht und vergeblich suchen die Friedensfreunde den bewaffneten Frieden, welcher ebenso schlimm ist als der unbewaffnete Krieg, abzuschaffen, da doch hierzu vor allem die wahre Erkenntnis gehört. Das Kapital ist mit der Arbeit im Streit, weil die eine sowohl als die andere Seite vor allem auf ihren eigenen Vorteil bedacht ist. Eine Horde von Unvernünftigen lässt unter der Maske der Religion und Humanität ihren Leidenschaften die Zügel schiessen, und missbraucht den Namen des Christentums zu Zwecken, welche dem Geiste desselben geradezu entgegengesetzt sind. Überall herrscht Eigendünkel und Selbstsucht und die Gier nach dem, was vergänglich ist und keinen wirklichen Wert besitzt. Würde die Mehrzahl der Menschen auch nur eine Ahnung ihrer eigenen höheren Natur haben, so würden alle die Übel, die man jetzt vergebens gewaltsam beseitigen will, von selbst aufhören, da ihnen die Wurzel, aus der sie entspringen, entzogen würde; die Erkenntnis allgemeiner Menschenrechte würde an die Stelle der Vorrechte von Nationen und Klassen treten, und wir könnten ein Reich der Vereinigten Staaten von Europa bilden, ein Reich des Friedens, in welchem der wahre Fortschritt gedeihen hönnte. Es hindert uns nichts daran, als die Verkehrtheit unserer ei genen Anschauung, infolge deren wir nichts sehen als das eigene täuschende vergängliche Selbst, und was auf dasselbe Bezug hat.

Es giebt für die Menschheit kein anderes Heil, keine andere Erlösung als in Gott, aber der Gott, der allein uns befreien kann, ist nicht der Gott der populären Theologie, welcher ausserhalb der Welt existiert, je nach seiner Laune handelt und sich durch Petitionen bewegen lässt, nach menschlichem Willen zu handeln. Wie jeder Baum, jedes Tier nur durch diejenige Kraft genährt und erhalten wird, welche in seinem eigenen Organismus als Leben wirkt, so kann auch der Mensch nur durch dasjenige Licht, welches in ihm selbst offenbar wird, zur wahren Erkenntnis, zum Bewusstsein seiner menschlichen und göttlichen Würde gelangen.

Dieses höhere Selbstbewusstsein kann nicht durch eine forcierte religiöse Erziehung erweckt werden, welche in dem Einbläuen von missverstandenen Dogmen und der äusserlichen Befolgung kirchlicher Gebräuche besteht, auch nicht durch die Begünstigung eines Kirchentums, welches Christus zum Kirchendiener gemacht hat, um weltlichen Interessen zu dienen, auch durch keine Erziehung, welche den Menschen unselbständig macht, indem sie ihn darauf hinweist, sein Heil in irgend etwas anderem als in der in ihm selbst wirkenden Kraft des göttlichen Geistes zu suchen. Ist aber der Mensch einmal dahingekommen, in sich selbst nach der Freiheit von allem, das ihn erniedrigt, zu suchen, und seine eigene Welt kennen zu lernen und zu beherrschen; dann wird er auch in seiner Seele schlummernde Kräfte entdecken, von denen die moderne Wissenschaft nichts weiss, die aber nur erweckt werden, um aus ihm, dem Wurm der Erde, einen Herrscher des Himmels und der Erde zu machen, dem seine ganze Natur unterthan ist.

Seit der Ausbreitung der „theosophischen Gesellschaft“ in Indien haben sich eine Menge der kostbarsten litterarischen Schätze in Bezug auf Kosmologie, Anthropologie usw. unserer Forschung eröffnet, welche früher den Europäern verborgen waren; denn bei den Indiern gilt mehr als bei andern der Grundsatz, dass man sich heiligen und erhabenen Dingen nicht anders als mit erhabenem Gemüte nahen soll, und es ist leicht zu begreifen, dass die Brahminen nur mit scheelem Auge auf die Profanation und Verunstaltung ihrer heiligen Bücher durch unheilige und skeptisch denkende „Orientalisten“ sahen. Da aber der erste Grundsatz und einzige Glaubensartikel dieser Vereinigung die Gleichberechtigung aller Menschen vor dem Throne der Wahrheit ist, so hat auch die darausfolgende Verbrüderung zwischen dem Osten und dem Westen dazu gedient, die Schranken niederzureissen, welche Jahrhunderte der Intoleranz und Bigotterie zwischen ihnen aufgebaut hatten, und während das moderne Kirchentum Europas, welches fast nur mehr als Modesache besteht, seinem Zerfalle entgegengeht, entzündet sich für uns eine neue Leuchte im Osten, ein Licht verbreitend, welches keine sektiererischen Bestrebungen kennt, welches den Christen und Juden, Brahminen, Buddhisten und allen genügen kann, das Licht der Wahrheit, dessen Erkenntnis die Weisheit ist.


(Lotusblüten, 1893, Band 1, S. 87-105)





Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen