Von Franz Hartmann
Die theosophische Gesellschaft ist ein internationaler Verein, der am 17.
November 1875 in New-York gegründet wurde. Seine Grundlage und Zweck ist:
1. Einen Kern zu bilden, um welchen die Ideen einer allgemeinen Menschenliebe
und Brüderlichkeit ohne Unterschied der Nationalität, des Glaubens,
Geschlechts, der gesellschaftlichen Stellung oder Hautfarbe krystallisieren und
die Ideale der Humanität sich verwirklichen könnten. (1)
2. Das Studium der Litteratur der Arier und der Religionen, Philosophien und
Wissenschaften des Ostens zu befördern und die Wichtigkeit eines solchen
Studiums bekannt zu machen. (2)
3. Den noch unbekannten Gesetzen der Natur und im Menschen schlummernden
geheimen Kräften nachzuforschen. (3)
Das Motto der Gesellschaft ist:
Es giebt keine höhere Religion als die Wahrheit selbst.
(D. h. der Mensch kann nicht näher zur Wahrheit kommen, als indem er selbst
in die Wahrheit kommt und die Wahrheit in ihm selber verwirklicht wird.)
Die Leiter der Gesellschaft in äusserlichen Beziehungen
sind folgende:
Für die Gesellschaft im allgemeinen: Präsident Col. H. S.
Olcott in Adyar bei Madras, Indien. – Vicepräsident W. Q. Judge, New-York, U.
S. Amerika. – Schriftführer S. E. Gopala Charlu in Adyar, Madras.
Europäische Abteilung. Vorstand: G. R. S. Mead, B. A. 19
Avenue Road, Regents Park, London NW., England.
Amerikanische Abteilung. Vorstand: William Q. Judge, 144 Madison Avenue, New-York.
Indische Abteilung. Vorstand: Bertram Keightley, M. A.,
Adyar, Madras.
Jede dieser Abteilungen schliesst in sich eine Anzahl von
Zweiggesellschaften; im ganzen zur Zeit 266, wovon 165 in Indien und Ceylon, 63
in Amerika, 25 in Europa, 8 in Australien und 4 in Japan, Burmah, China und
Westindien sich befinden.
Die grösste Anzahl der europäischen Zweiggesellschaften
befindet sich in England (17), welche wieder in verschiedenen Städten ihre
Unterabteilungen (zusammen 43) haben.
·
In Deutschland befindet
sich eine in Berlin. (4)
·
In Österreich zwei, in
Wien und in Prag. (5)
·
In Frankreich zwei, in
Paris mit Unterabteilungen, in Havre und Toulon.
·
In Griechenland eine, in
Corfu.
·
Für Holland und Belgien
eine, in Amsterdam, mit drei Unterabteilungen.
·
In Italien eine, in Rom.
·
In Russland eine, in
Odessa. (5)
·
In Spanien eine, in
Madrid, mit drei Unterabteilungen.
·
In Schweden eine, in
Stockholm, mit drei Unterabteilungen.
·
In der Schweiz eine, in
Locarno.
Ausser einer Menge von Litteratur in verschiedenen Sprachen verfügt die
Gesellschaft über eine Reihe von Journalen, welche je nach den Begabungen ihrer
Verfasser die theosophischen Ideen zu verbreiten suchen. Von diesen erscheinen
12 in englischer, 2 in französischer, 2 in deutscher, 1 in schwedischer, 1 in
italienischer, 1 in holländischer Sprache, und eine Reihe von anderen in
indischen Dialekten, Sanskrit und Japanesisch. Beson dere Erwähnung verdienen:
- „The Theosophist“, Adyar,
Madras.
- „Lucifer“, 7 Duke Street,
Adelphi, London, W. C.
- „The Path“, 144 Madison
Avenue, New-York, U. S. A.
- „Le Lotus Bleu“, 1 4 rue Chaptal, Paris.
- „Estudios Teosóficos“, Calle de Tallers,
53, Barcelona.
- „Sphinx“, Steglitz bei
Berlin.
Alle Art von theosophischer Litteratur kann bezogen werden durch die
„Theosophical Publication Society“, 7 Duke Street, Adelphi, London, W. C, und
durch die Buchhandlung von Wilhelm Friedrich in Leipzig.
Durch die Thätigkeit der theosophischen Gesellschaft wurde eine Reihe von
humanitären Institutionen, besonders in Indien und England, geschaffen, so z.
B. den indischen Frauen die Möglichkeit einer Erziehung und den Witwen die
gesetzliche Genehmigung der Wiederverheiratung verschafft, in Indien und Ceylon
Sanskrit und andere Schulen eröffnet, in London für die arbeitenden Klassen
Unterkunftshäuser und Versorgungsanstalten für Kinder, öffentliche Lesezimmer
u. s. w. gegründet. Auf eine Beschreibung der Thätigkeit der theosophischen
Gesellschaft hier einzugehen, ist nicht unsere Absicht, und ebenso denken wir
nicht daran, für irgend jemand Propaganda machen zu wollen.
Da die Theosophie die Selbsterkenntnis der ewigen Wahrheit ist, und da sich
dieser Erkenntnis kein grösseres Hindernis in den Weg stellt, als der Egoismus,
beziehe er sich nun auf den persönlichen Vorteil des einzelnen oder den Vorteil
irgend einer Kirche, Körperschaft oder eines Staates, so versteht es sich wohl
von selbst, dass es nicht in der Absicht der Mitglieder der theosophischen
Gesellschaft liegen kann, mit sektiererischen Katzbalgereien, kirchlichen
Angelegenheiten, Politik oder mit irgend etwas, wobei der eine Teil auf Kosten
des anderen Teils sich zu bereichern oder zu erheben trachtet, sich zu
beschäftigen. Die Theosophie kennt nur eine einzige Menschheit, nur einen
einzigen Gott, welcher die Wahrheit und Wesenheit ist, während alles übrige der
Welt der Erscheinungen, welche vergänglich sind, angehört. Dieses göttliche
Ideal im Menschlichen zu verwirklichen, die Bedingungen herzustellen, unter
denen Gott sich in seiner Gottheit in der ganzen Menscheit offenbaren kann,
dies ist der Zweck, welchen diejenigen im Auge haben, welche zur Gründung der
theosophischen Gesellschaft den Anlass gaben, und welche über diese Bewegung
wachen. Ihre Namen sind nur den Eingeweihten bekannt, und sie haben kein
Verlangen, persönlich vor die Öffentlichkeit zu treten; sie können aber leicht
von jedem gefunden werden, der sich erst selber gefunden hat.
Hinweise
(1) Die Mitglieder der theosophischen Gesellschaft geben
sich nichtder Illusionhin, dass sie schnurstracks das goldene Zeitalter auf
Erden einführen könnten. Sie versuchen aber einen Kreis zu bilden, in welchem
die Ideale der Menschheit sich so viel als jetzt möglich ist verwirklicht
finden, und es ist kein Grund vorhanden, weshalb ein solcher Kreis sich nicht
immer weiter ausbreiten kann. Es handelt sich bloss darum, einmal den Anfang zu
machen.
(2) Die Wissenschaften des Ostens, von denen hier die
Rede ist, beziehen sich nicht wie die Wissenschaften des Westens auf die
Kenntnis äusserer Vorgänge in der Natur, sondern auf die inneren „geistigen“
Vorgänge, welche allen äusseren Erscheinungen zu Grunde liegen. Was die
Erklärungen der äusseren Naturerscheinungen betrifft, so übertrifft die
Wissenschaft des Westens diejenige des Ostens; dagegen finden sich unter den
Völkern des Ostens viel mehr Personen, welche durch die Ausübung von Yoga zu
einer höheren geistigen Bewusstseinsstufe gelangt sind und in Folge dessen eine
höhere „geistige“ Wahrnehmungsfähigkeit besitzen. Ihre Wissenschaft umfasst
eine durch eigene Anschauung erlangte Kenntnis von Dingen, welche den
europäischen Philosophen entweder gar nicht, oder nur auf dem Umwege der
philosophischen Spekulation annähernd bekannt sind. Dazu gehören z. B. Beschaffenheit
der seelischen und geistigen Konstitution des Menschen, des Weltalls, die
Erkenntnis der verborgenen Gesetze der Evolution, der Zustände der
verschiedenen Elemente des Menschen nach dem Tode seines Körpers u. s. w. Auch
handelt es sich hierbei nicht um ein gläubiges Annehmen und Nachbeten von
Theorien, sondern um Fingerzeige für die eigene Forschung.
(3) Die „noch unbekannten Gesetze der Natur“ beziehen
sich auf die Wirkungen des Gesetzes des Geistes in der Natur, denn hinter der
äusseren Natur ist noch eine tiefer liegende, wenig bekannte Natur verborgen.
Es gehören dahin die Wirkungen des Willens und der Vorstellung in der Natur,
überhaupt alle Fragen, welche die Philosophen heutzutage beschäftigen. Die im
Menschen schlummernden geheimen Kräfte aber sind die verschiedenen Stufen des
Bewusstseins, innere Wahrnehmungsfähigkeiten, die Kraft des selbstbewussten
Willens, des Glaubens, der Hoffnung, Liebe, Selbstbeherrschung, Geduld u. s.
w., deren Eigenschaften alle nur dadurch erforscht werden können, dass man sie
im praktischen Leben zur Ausübung bringt.
(4) Die oben angeführte Grundlage ist das einzige, was
für uns in der Beurteilung des Wirkungskreises der „Theosophischen
Gesellschaft“ von Wichtigkeit ist, und je mehr jeder einzelne die Wahrheit der
darin enthaltenen Ideen erkennt und verwirklicht, um so mehr wird es ihm und
dem Ganzen Nutzen bringen. Die „Theosophische Gesellschaft" als solche hat
keinerlei Dogmen; sie überlässt es jedem, zu glauben was er will und auf seine
Weise zur Erkenntnis zu kommen. Es ist daher auch kein Mitglied verantwortlich
für das, was ein anderes Mitglied allenfalls zu lehren oder behaupten sich
berufen fühlen sollte. Es steht jedem frei, eine Meinung auszusprechen, wie es
auch jedermann freisteht, dieselbe anzunehmen oder zu verwerfen. Der einzige
unfehlbare Leiter ist die Wahrheit selbst, und sie offenbart sich jedem, der
sie erkennt.
(5) Aus gewissen Gründen, die hier nicht zu erörtern
sind, wurde in Österreich und Russland dem Bestehen dieser Gesellschaften,
hinter denen man eine Art von „Freimaurerei“ witterte, nicht die gesetzliche
Bewilligung erteilt. Die dort befindlichen Mitglieder sind deshalb nur als
Mitglieder der europäischen Sektion, welche sich zur Zeit in den betreffenden
Städten aufhalten, zu betrachten.
(Lotusblüten, 1893, Band 1, S. 60-68)