Hinweis: Ich habe in anderen Sprachen viele interessante Artikel verfasst,
die Sie in diesen Links lesen können: Teil 1 und Teil 2.

31.10.18

DIE THEOSOPHISCHE GESELLSCHAFT UND IHR ZWECK



Von Franz Hartmann

Die theosophische Gesellschaft ist ein internationaler Verein, der am 17. November 1875 in New-York gegründet wurde. Seine Grundlage und Zweck ist:

1.   Einen Kern zu bilden, um welchen die Ideen einer allgemeinen Menschenliebe und Brüderlichkeit ohne Unterschied der Nationalität, des Glaubens, Geschlechts, der gesellschaftlichen Stellung oder Hautfarbe krystallisieren und die Ideale der Humanität sich verwirklichen könnten. (1)

2.    Das Studium der Litteratur der Arier und der Religionen, Philosophien und Wissenschaften des Ostens zu befördern und die Wichtigkeit eines solchen Studiums bekannt zu machen. (2)

3.   Den noch unbekannten Gesetzen der Natur und im Menschen schlummernden geheimen Kräften nachzuforschen. (3)

Das Motto der Gesellschaft ist:

Es giebt keine höhere Religion als die Wahrheit selbst.

(D. h. der Mensch kann nicht näher zur Wahrheit kommen, als indem er selbst in die Wahrheit kommt und die Wahrheit in ihm selber verwirklicht wird.)


Die Leiter der Gesellschaft in äusserlichen Beziehungen sind folgende:

Für die Gesellschaft im allgemeinen: Präsident Col. H. S. Olcott in Adyar bei Madras, Indien. – Vicepräsident W. Q. Judge, New-York, U. S. Amerika. – Schriftführer S. E. Gopala Charlu in Adyar, Madras.

Europäische Abteilung. Vorstand: G. R. S. Mead, B. A. 19 Avenue Road, Regents Park, London NW., England.

Amerikanische Abteilung. Vorstand: William Q. Judge, 144 Madison Avenue, New-York.

Indische Abteilung. Vorstand: Bertram Keightley, M. A., Adyar, Madras.

Jede dieser Abteilungen schliesst in sich eine Anzahl von Zweiggesellschaften; im ganzen zur Zeit 266, wovon 165 in Indien und Ceylon, 63 in Amerika, 25 in Europa, 8 in Australien und 4 in Japan, Burmah, China und Westindien sich befinden.

Die grösste Anzahl der europäischen Zweiggesellschaften befindet sich in England (17), welche wieder in verschiedenen Städten ihre Unterabteilungen (zusammen 43) haben.

·        In Deutschland befindet sich eine in Berlin. (4)
·        In Österreich zwei, in Wien und in Prag. (5)
·        In Frankreich zwei, in Paris mit Unterabteilungen, in Havre und Toulon.
·        In Griechenland eine, in Corfu.
·        Für Holland und Belgien eine, in Amsterdam, mit drei Unterabteilungen.
·        In Italien eine, in Rom.
·        In Russland eine, in Odessa. (5)
·        In Spanien eine, in Madrid, mit drei Unterabteilungen.
·        In Schweden eine, in Stockholm, mit drei Unterabteilungen.
·        In der Schweiz eine, in Locarno.

Ausser einer Menge von Litteratur in verschiedenen Sprachen verfügt die Gesellschaft über eine Reihe von Journalen, welche je nach den Begabungen ihrer Verfasser die theosophischen Ideen zu verbreiten suchen. Von diesen erscheinen 12 in englischer, 2 in französischer, 2 in deutscher, 1 in schwedischer, 1 in italienischer, 1 in holländischer Sprache, und eine Reihe von anderen in indischen Dialekten, Sanskrit und Japanesisch. Beson dere Erwähnung verdienen:

  - „The Theosophist“, Adyar, Madras.
  - „Lucifer“, 7 Duke Street, Adelphi, London, W. C.
  - „The Path“, 144 Madison Avenue, New-York, U. S. A.
  - „Le Lotus Bleu“, 1 4 rue Chaptal, Paris.
  - „Estudios Teosóficos“, Calle de Tallers, 53, Barcelona.
  - „Sphinx“, Steglitz bei Berlin.

Alle Art von theosophischer Litteratur kann bezogen werden durch die „Theosophical Publication Society“, 7 Duke Street, Adelphi, London, W. C, und durch die Buchhandlung von Wilhelm Friedrich in Leipzig.

Durch die Thätigkeit der theosophischen Gesellschaft wurde eine Reihe von humanitären Institutionen, besonders in Indien und England, geschaffen, so z. B. den indischen Frauen die Möglichkeit einer Erziehung und den Witwen die gesetzliche Genehmigung der Wiederverheiratung verschafft, in Indien und Ceylon Sanskrit und andere Schulen eröffnet, in London für die arbeitenden Klassen Unterkunftshäuser und Versorgungsanstalten für Kinder, öffentliche Lesezimmer u. s. w. gegründet. Auf eine Beschreibung der Thätigkeit der theosophischen Gesellschaft hier einzugehen, ist nicht unsere Absicht, und ebenso denken wir nicht daran, für irgend jemand Propaganda machen zu wollen.

Da die Theosophie die Selbsterkenntnis der ewigen Wahrheit ist, und da sich dieser Erkenntnis kein grösseres Hindernis in den Weg stellt, als der Egoismus, beziehe er sich nun auf den persönlichen Vorteil des einzelnen oder den Vorteil irgend einer Kirche, Körperschaft oder eines Staates, so versteht es sich wohl von selbst, dass es nicht in der Absicht der Mitglieder der theosophischen Gesellschaft liegen kann, mit sektiererischen Katzbalgereien, kirchlichen Angelegenheiten, Politik oder mit irgend etwas, wobei der eine Teil auf Kosten des anderen Teils sich zu bereichern oder zu erheben trachtet, sich zu beschäftigen. Die Theosophie kennt nur eine einzige Menschheit, nur einen einzigen Gott, welcher die Wahrheit und Wesenheit ist, während alles übrige der Welt der Erscheinungen, welche vergänglich sind, angehört. Dieses göttliche Ideal im Menschlichen zu verwirklichen, die Bedingungen herzustellen, unter denen Gott sich in seiner Gottheit in der ganzen Menscheit offenbaren kann, dies ist der Zweck, welchen diejenigen im Auge haben, welche zur Gründung der theosophischen Gesellschaft den Anlass gaben, und welche über diese Bewegung wachen. Ihre Namen sind nur den Eingeweihten bekannt, und sie haben kein Verlangen, persönlich vor die Öffentlichkeit zu treten; sie können aber leicht von jedem gefunden werden, der sich erst selber gefunden hat.




Hinweise

(1) Die Mitglieder der theosophischen Gesellschaft geben sich nichtder Illusionhin, dass sie schnurstracks das goldene Zeitalter auf Erden einführen könnten. Sie versuchen aber einen Kreis zu bilden, in welchem die Ideale der Menschheit sich so viel als jetzt möglich ist verwirklicht finden, und es ist kein Grund vorhanden, weshalb ein solcher Kreis sich nicht immer weiter ausbreiten kann. Es handelt sich bloss darum, einmal den Anfang zu machen.

(2) Die Wissenschaften des Ostens, von denen hier die Rede ist, beziehen sich nicht wie die Wissenschaften des Westens auf die Kenntnis äusserer Vorgänge in der Natur, sondern auf die inneren „geistigen“ Vorgänge, welche allen äusseren Erscheinungen zu Grunde liegen. Was die Erklärungen der äusseren Naturerscheinungen betrifft, so übertrifft die Wissenschaft des Westens diejenige des Ostens; dagegen finden sich unter den Völkern des Ostens viel mehr Personen, welche durch die Ausübung von Yoga zu einer höheren geistigen Bewusstseinsstufe gelangt sind und in Folge dessen eine höhere „geistige“ Wahrnehmungsfähigkeit besitzen. Ihre Wissenschaft umfasst eine durch eigene Anschauung erlangte Kenntnis von Dingen, welche den europäischen Philosophen entweder gar nicht, oder nur auf dem Umwege der philosophischen Spekulation annähernd bekannt sind. Dazu gehören z. B. Beschaffenheit der seelischen und geistigen Konstitution des Menschen, des Weltalls, die Erkenntnis der verborgenen Gesetze der Evolution, der Zustände der verschiedenen Elemente des Menschen nach dem Tode seines Körpers u. s. w. Auch handelt es sich hierbei nicht um ein gläubiges Annehmen und Nachbeten von Theorien, sondern um Fingerzeige für die eigene Forschung.

(3) Die „noch unbekannten Gesetze der Natur“ beziehen sich auf die Wirkungen des Gesetzes des Geistes in der Natur, denn hinter der äusseren Natur ist noch eine tiefer liegende, wenig bekannte Natur verborgen. Es gehören dahin die Wirkungen des Willens und der Vorstellung in der Natur, überhaupt alle Fragen, welche die Philosophen heutzutage beschäftigen. Die im Menschen schlummernden geheimen Kräfte aber sind die verschiedenen Stufen des Bewusstseins, innere Wahrnehmungsfähigkeiten, die Kraft des selbstbewussten Willens, des Glaubens, der Hoffnung, Liebe, Selbstbeherrschung, Geduld u. s. w., deren Eigenschaften alle nur dadurch erforscht werden können, dass man sie im praktischen Leben zur Ausübung bringt.

(4) Die oben angeführte Grundlage ist das einzige, was für uns in der Beurteilung des Wirkungskreises der „Theosophischen Gesellschaft“ von Wichtigkeit ist, und je mehr jeder einzelne die Wahrheit der darin enthaltenen Ideen erkennt und verwirklicht, um so mehr wird es ihm und dem Ganzen Nutzen bringen. Die „Theosophische Gesellschaft" als solche hat keinerlei Dogmen; sie überlässt es jedem, zu glauben was er will und auf seine Weise zur Erkenntnis zu kommen. Es ist daher auch kein Mitglied verantwortlich für das, was ein anderes Mitglied allenfalls zu lehren oder behaupten sich berufen fühlen sollte. Es steht jedem frei, eine Meinung auszusprechen, wie es auch jedermann freisteht, dieselbe anzunehmen oder zu verwerfen. Der einzige unfehlbare Leiter ist die Wahrheit selbst, und sie offenbart sich jedem, der sie erkennt.

(5) Aus gewissen Gründen, die hier nicht zu erörtern sind, wurde in Österreich und Russland dem Bestehen dieser Gesellschaften, hinter denen man eine Art von „Freimaurerei“ witterte, nicht die gesetzliche Bewilligung erteilt. Die dort befindlichen Mitglieder sind deshalb nur als Mitglieder der europäischen Sektion, welche sich zur Zeit in den betreffenden Städten aufhalten, zu betrachten.


(Lotusblüten, 1893, Band 1, S. 60-68)





22.10.18

THEOSOPHIE




Von Franz Hartmann

„Ich wohne in den Herzen von Allen.
Von mir kommt das Denken und Wissen.“
(Bhagavad Gita. XV. 15.)

Die erste Frage, welche uns in unserer Unternehmung begegnet, ist: „Was ist Theosophie?“  Die Antwort ist einfach, und dennoch für die meisten schwer zu begreifen. Das Wort „Theosophie“ kommt von Theos, Gott, und Sophia, Weisheit, und bedeutet Gottesweisheit, oder mit anderen Worten die Selbsterkenntnis Gottes im Weltall.  Um nun zu wissen, was die göttliche Weisheit ist, müssten wir vor allem die Frage beantworten: „Was ist Gott?“ und damit hätten wir die Schwelle der menschlichen Erkenntnisfähigkeit überschritten; denn wenn wir uns auch von Gottes Wesen irgend einen Begriff oder eine Meinung bilden könnten, so würden wir doch nicht wissen, ob dieser Begriff der richtige sei.  Um Selbsterkenntnis von Gott zu besitzen, müssten wir Gott sein, und uns selber als Gott erkennen, und damit hätte die menschliche Erkenntnis aufgehört und die Weisheit Gottes wäre an ihre Stelle getreten.

Die Bhagavad Gita sagt, indem sie Gott (Brahma) darstellt, wie er durch sein Wort (Krischna, den Logos) spricht:

-      „Das ganze Weltall ist von mir ausgebreitet worden; aus mein ernichtoffenbaren materiellen Natur (Prakriti) ist es hervorgegangen. Ich bin der Vater, die Mutter, der Erhalter, die Quelle von allem Sein. Ich bin der Weg, der Herr, der Zeuge, die Wohnung, die Zuflucht, der Freund, des Lebens Ursprung und der Zerstörer der Formen.“ (Kap. IX, 4, 17.)

In der Bibel steht ähnliches unter den Psalmen, und wenn wir uns unter den deutschen Mystikern umsehen, so finden wir dieselbe Lehre, wenn auch mit anderen Worten. So sagt z. B. Meister Eckhart der Mystiker:

-      „Gott (Parabrahm) kann nicht beschrieben werden. Alle Prädikate sind fremdartige Zusätze zum blossen göttlichen Wesen. Seine Natur ist die, ohne Natur zu sein. Ein einziges Prädikat dem Wesen beigelegt, hebt den Begriff des Wesens auf.“ (160,30.)

-      „Alles abgeschieden, abgezogen und abgeschält; dass nichts übrig bleibt als ein einziges „Ist“, das ist sein eigentlicher Name.“ (108,31.)

Aber in Gottes materieller Natur, dem „Urstoff des Weltalls“ (Mulaprakriti) sind alle Dinge enthalten. Dies hat schon Plato erkannt, und Eckhart sagt:

-      „Gott hat alle Dinge verborgen in sich. Alle Dinge sind in Gott, sofern sie ewig in Gott gewesen sind, nicht in grober Materialität, wie wir jetzt sind, sondern wie die Kunst in dem Meister. Gott sah sich selber an und sah alle Dinge.“ (502, 22.)

-      „Gott spricht nur ein Wort, seinen Sohn; aber in diesem spricht er alle Kreaturen ohne Anfang und ohne Ende.“ (76, 28.)

-      „Unterliesse Gott dieses Sprechen auch nur einen Augenblick, Himmel und Erde müssten vergehen.“ (100, 29.)

-      „In dem klaren Spiegel des ewigen Sichselbstwissens des Vaters, da gestalteter ein Abbild seiner selbst, seinen Sohn. In diesem Spiegel bilden sich alle Kreaturen ab, und man erkennt sie darin; freilich nicht als Kreaturen, sondern als Gott in Gott.“ (378, 36.)

Eckhart bezeichnet Gott als die höchste Vernunft; Jakob Böhme bezeichnet ihn als den Geist oder Willen, und die Weisheit als die Jungfrau oder Gottes Natur:

-      „Nun ist die Jungfrau vor Gott, und aneignet sich zu dem Geiste, von dem die Kraft ausgehet, daraus sie die züchtige Jungfrau der Weisheit wird; die ist nun Gottes Gespielin, zur Ehre und Freude Gottes; die erblicket sich in dem ewigen Wunder Gottes, und in dem Erblicken wird sie sehnend nach dem Wunder in der ewigen Weisheit, welche doch sie selber ist, und sehnet sich also in sich selber, und ihr Sehnen sind die ewigen Essentien, die ziehen an sich die heilige Kraft, und das herbe Fiat schaffet es, dass es im Wesen steht, und sie ist eine Jungfrau, und hat nie geboren, und nimmt auch nichts in sich.“
(„Von den drei Prinzipien göttlichen Wesens.“ XIV, 87.)

Ähnliche Aufschlüsse finden wir in alten und neuen Schriften, in allen möglichen Theologien, und die Philosophen aller Zeiten haben sich abgequält, Gott zu beschreiben, und das was über alle menschliche Begriffe erhaben ist, den Menschen begreiflich zu machen.  Damit ist aber unserer Wissbegierde wenig gedient, und so lange wir von Gott keine Selbsterkenntnis besitzen, gehören für uns alle solche Dinge in das Reich des Mondscheins, der Spekulation.  Ob wir nun mit dem Teleskop die Himmelsräume durchsuchen, oder mit dem Mikroskop das Atom zu entdecken verlangen, wir finden nirgends eine Spur von einem Gott, der ausser uns selber ist.

Somit wäre es wohl ein verzweifeltes Unternehmen, auf dem Wege wissenschaftlicher Beobachtung zur Gotteserkenntnis gelangen zu wollen.  Nehmen wir aber an, dass Gott allgegenwärtig ist, so wird das, was für uns so schwierig schien, auf einmal sehr leicht; denn wenn Gott allgegenwärtig ist, so ist er auch in uns selbst, und wir brauchen dann nur unser eigenes Wesen in Wahrheit kennen zu lernen, um Gott zu erkennen.

Die Frage: „Was ist Gott?“ löst sich somit in die Frage auf: „Was bin ich?“

Wenn ich mich selbst betrachte, so finde ich: dass ich weder mein Körper, noch mein Gefühl, noch mein Denken, ebensowenig als mein Essen und Trinken, bin. Man kann wohl sagen, dass weder Körper, noch Seele, noch Geist, wohl aber alle drei zusammen den Menschen ausmachen; aber ausser diesen Dreien ist noch etwas Höheres in mir, für das ich keinen Begriff und keinen Namen habe, und das ich nicht kenne.  Dieses Eine, das den Grund meines Selbstbewusstseins bildet, ist mein Ich. Dieses Ich ist etwas, welches weiss, was ich weiss, und welches, wenn ich nichts weiss, auch weiss, dass ich nichts weiss.  Verliere ich das Bewusstsein dieses Ichs, wenn ich einschlafe, so ist doch dasselbe Ichbewusstsein wieder da, wenn ich aufwache; dieses Ich scheint ganz von meinem persönlichen Bewusstsein unabhängig zu sein, und ich habe keinen Grund, um zu behaupten, dass dieses Ich nicht ewig ist und nicht fortexistiert, wenn meine Person aufgehört hat zu leben oder sich mit ihm zu beschäftigen.  Allerdings kann es viele Menschen geben, von denen ein jeder glaubt, dass seine Person sein wirkliches und wahres „Ich“ sei; allein schon ein geringer Grad von Nachdenken genügt, um uns von dem Irrtum dieser Ansicht zu überzeugen; denn wir sehen, dass diese Person in jeder Beziehung, körperlich, im Gefühlsleben und auch in ihren geistigen Thätigkeiten, einem fortwährenden Wechsel unterworfen ist; dass wir heute nicht mehr dieselben Personen sind, die wir als Kinder waren, und dass wir in einer Reihe von Jahren ein anderes Aussehen, andere Instinkte, andere Meinungen haben werden; auch strebt kein vernünftiger Mensch darnach, das zu bleiben, was er ist; sondern jeder sucht ein „anderer" und besserer oder glücklicherer Mensch zu werden; nur der Idiot und der Heilige sind mit sich selber zufrieden.  Aber im Grunde aller dieser Veränderungen des Bewusstseins ist etwas, das sich, so lange wir leben und fühlen und denken, für uns immer gleich bleibt, in welchem wir keine Veränderung wahrnehmen, nämlich das Selbstbewusstsein: Ich bin!  Dieses unbekannte Etwas weiss, dass es ist, weil es sein eigenes Dasein erkennt; diese seine Erkenntnis beruht nicht auf Spekulation, noch auf den Aussagen anderer Leute, nicht auf Berechnungen, noch auf Autoritätenglauben, sondern es weiss, dass es ist, aus keinem anderen Grunde, als weil es ist und sein Dasein erkennt.  Dieses tiefer liegende Ich ist, wie wir aus eigener Selbstbetrachtung erkennen, die Ursache unserer Fähigkeit, zu denken, zu fühlen und zu handeln; nicht aber unser Denken, Fühlen und Handeln selbst. Es ist die Quelle unseres Seins, und deshalb nennt man es „Gott“.

Die Bhagavad Gita sagt:

-      „Ich bin die Seele, die in dem Herzen eines jeden Geschöpfes wohnt; ich bin der Anfang, die Mitte und das Ende von jedem Ding.“ (X, 20.)

In der Bibel heisst es:

-      „Wisset ihr nicht, dass ihr Tempel Gottes seid, und dass der Geist Gottes in euch wohnet?“ (I. Corinth. III, 16.)

-      „Christus in uns ist das Geheimnis der Erlösung, die Hoffnung dieser Herrlichkeit.“ (Col. I, 27.)

Auch sagt uns unsere Vernunft und Beobachtung, dass, wenn auch die Erscheinungen, in denen das Leben sich äussert, sich fortwährend ändern, doch das Sein immer dasselbe ist, und dass wir in ihm keine Veränderung wahrnehmen.

Solange wir aber von diesem unserem Ich, welches weiss, dass es ist, nichts weiteres wissen, als dass es ist, können wir auch nichts über dessen Eigenschaften und Funktionen wissen, und haben kein Recht, Behauptungen über dasselbe aufzustellen.  Wenn Gott in uns auch göttliche Selbsterkenntnis besitzt, so kann uns dies doch nichts nützen, so lange wir nicht an dieser Erkenntnis teilnehmen können; wenn dieses Ich auch unsterblich ist, so kann doch diese Unsterblichkeit unserer Menschennatur nicht zugute kommen, so lange diese Natur von diesem Ich verschieden und sterblich ist, und von der Unsterblichkeit Gottes nichts weiss.  Eine solche göttliche Erkenntnis und Unsterblichkeit ist erst dann denkbar, wenn die menschliche Natur von der göttlichen Natur durchdrungen und in ihr aufgegangen ist.  Eine unbewusste Erkenntnis ist keine Erkenntnis; eine Unsterblichkeit ohne Bewusstsein kann uns nichts nützen.  Erst wenn wir nicht bloss unsere Persönlichkeit, sondern unser wahres Ich, Gott in uns, erkennen, haben wir die Gotteserkenntnis, die wahre Theosophie.

Diese göttliche Selbsterkenntnis kann sich aber niemand durch eigenes Haschen und Suchen erringen; es ist vielmehr ein geistiges Erwachen, welches durch die Kraft des Geistes entsteht, wenn die Bedingungen dazu vorhanden sind.  Wie das Sonnenlicht in das Herz einer Knospe dringt, wenn, gehorchend dem Reize des Lichts, sich ihr Kelch den Sonnenstrahlen eröffnet, so dringt die göttliche Liebe ins Menschenherz und wird die Ursache seiner Erleuchtung, wenn die Hindernisse beseitigt sind, welche sich dieser Wirkung entgegenstellen.  Diese Hindernisse sind vor allem die Selbstsucht mit den aus derselben entspringenden Begierden und Leidenschaften, und ferner alle die Irrtümer, Vorurteile und Meinungen, welche aus der Nichterkenntnis der ewigen Wahrheit entspringen.  Um nun diese Hindernisse zu beseitigen, dazu kommen uns die theosophischen Lehren zu Hilfe, d. h. die Lehren derjenigen Menschen (Adepten), welche zur Selbsterkenntnis gelangt sind.  Diese theosophischen Lehren sind noch lange keine Theosophie, wohl aber sind dieselben dazu geeignet, uns zu einer richtigen Weltanschauung zu verhelfen, und uns dadurch auf den Weg zu leiten, auf welchem wir durch den Sieg über unser illusorisches „Ich" zur Erkenntnis Gottes gelangen können.  Die theosophischen Lehren weisen uns darauf hin, dass Gott alles in allem und in allem das Höchste ist, und dass, wenn wir zur Selbsterkenntnis in Gott gelangt sind, wir in ihm alles erkennen werden.  Wer deshalb diesen Weg betreten und auf ihm mutig fortschreiten will, der wird Gott und in Gott alles erlangen, was er nur wünschen kann; wer aber nicht selbst diesen Weg wandeln will, für den haben auch die theosophischen Lehren nicht mehr als einen theoretischen Wert, sie sind für ihn blosse Spekulationen, von deren Wahrheit ihm niemand einen überzeugenden Beweis bringen kann, wenn er nicht in der eigenen Anschauung den Beweis dafür findet.

Diese Anschauung kann nur dann unsere eigene sein, wenn durch die Erhebung zu unserem wahren Ich, durch die Vereinigung mit dem göttlichen Wesen in uns, die Selbstbetrachtung Gottes unsere eigene Selbstbetrachtung geworden ist, und da Gott das Ganze umfasst und in sich trägt, so umfasst auch seine Selbstanschauung das Ganze und es kann ihm nichts verborgen sein, das Wesen hat, da er ja selbst das Wesen in allem ist. Da er selbst die Wahrheit ist, so liegt in seiner Selbsterkenntnis die Erkenntnis der Wahrheit in ihrem ganzen Umfange; er braucht keine Schlussfolgerungen oder Berechnungen, um der Wahrheit auf den Grund zu kommen; er erkennt das, was ist, aus keinem anderen Grunde, als weil es ist, und er erkennt es, weil er es selber ist, und er sich selbst als alles erkennt.  Gott kümmert sich um keine wissenschaftlichen Theorien und Meinungen, er ist die Wahrheit in allem und es ist ein fruchtloses Bemühen, wenn, wie es häufig geschieht, manche darnach trachten die Theosophie mit den Theorien der Gelehrten in Einklang zu bringen; vielmehr sollten die Gelehrten sich bemühen, ihre Theorien mit der Wahrheit in Einklang zu bringen, wozu es allerdings nötig wäre, die Wahrheit erst kennen zu lernen, und um sie kennen zu lernen, muss man den äusseren Schein verlassen und die Wahrheit in sich selber aufnehmen und sie erfassen.

-      „Wenn ihrs nicht fühlt, ihr werdet's nicht erjagen.“ (Goethe.)

Das Gefühl des Wahren ist das erste, und tritt ein, wenn die Wahrheit im Menschen zur Kraft wird, die ihn begeistert und durchdringt. Das Gefühl allein ist aber noch kein Begreifen, keine volle Erkenntnis; es gehört dazu auch noch die Eröffnung der inneren Sinne, welche auf dem Wege der geistigen „Wiedergeburt“ stattfinden.  Durch diese Wiedergeburt erlangt der innere Mensch, welcher den äusseren Menschen mit Gott verbindet, Wesen und Organisation.  Erst wenn der innere geistige Mensch geboren, zum Bewusstsein gekommen, und durch die geistige Nahrung, welche er durch den Geist der Wahrheit erhält, zur Reife gelangt ist, kann von einer Selbsterkenntnis des geheimnisvollen Ichs, welches die Menschen nicht kennen, die Rede sein.  Ohne diese Selbsterkenntnis aber ist der Mensch nur ein Scheinwesen, ein Nichts, das sich für etwas hält, was es nicht ist, und sich dadurch verhindert, zu erkennen was es ist oder werden kann. Ohne dieses innere Erwachen kann man wohl ein Träumer und Schwärmer sein, aber kein wirklicher Theosoph.

Dieses innere Erwachen, diese Erlangung eines höheren geistigen Selbstbewusstseins aber kann dadurch erreicht werden, dass der Mensch die Nichtigkeit alles äusseren Scheines erkennt, dass er so wie ein erwachsener Mensch die Spielsachen fortwirft, die ihn in seiner Jugend lebhaft interessierten, aus freiem Willen und mit freudigem Herzen allen Illusionen des Lebens, allem Vergänglichen, allen Begierden nach dem, was sterblich ist, allem falschen Wissen entsagt und sich davon losmacht, und in Gott, seinem Führer, der in ihm lebt, allein seine Zuflucht sucht.  Wer dieses göttliche Ich, das eins mit, dem Gott des Weltalls ist und in ihm seine Wurzel hat, wie ein Sonnenstrahl in der Sonne, in seinem Herzen findet, der erlangt die Herrschaft über sich selbst, und wer Herr über sich selbst ist, ist niemandem unterthan.  Er tritt in das Licht, in die Freiheit ein, und da er eins mit dem Gesetze ist, so ist er selbst das Gesetz.  Menschliche Freuden und Leiden haben über ihn keine Macht mehr, denn „er“ hat aufgehört zu sein. Er lebt, aber nicht er, sondern Gott (Iswara – der Herr) lebt in ihm.  Er unterscheidet zwischen sich selbst und seiner Natur, und was auch seine Natur leiden mag, er verhält sich dabei wie ein unbeteiligter Zuschauer; denn er ist nicht mehr mit seiner Natur identifiziert, sondern über dieselbe erhaben; er ist eins mit Gott, in dem die ewige Ruhe und Seligkeit und das ewige Sein (sat chit anandam) in Einem enthalten ist, der in sich selbst existierend und unabhängig von äusseren Dingen ist, für den auch nichts äusseres existiert, da er ja selber alles in allem ist, und alles, was ausser ihm zu sein scheint und für uns sichtbar ist, nichts ist als eine Welt von Formen, die er selber durch seinen Willen in seiner Weisheit hervorgebracht hat, als ein Produkt seiner eigenen Selbstanschauung.  Diese Selbstanschauung und Selbsterkenntnis Gottes, die nur der mit Gott vereinigte Mensch, nicht aber der Mensch ohne Gott, und wenn er auch noch so gelehrt wäre, begreifen kann, ist die Gottesweisheit oder Theosophie.

(Lotusblüten, 1893, Band 1, S. 1-15)