Hinweis: Ich habe in anderen Sprachen viele interessante Artikel verfasst,
die Sie in diesen Links lesen können: Teil 1 und Teil 2.

31.10.18

DIE THEOSOPHISCHE GESELLSCHAFT UND IHR ZWECK



Von Franz Hartmann

Die theosophische Gesellschaft ist ein internationaler Verein, der am 17. November 1875 in New-York gegründet wurde. Seine Grundlage und Zweck ist:

1.   Einen Kern zu bilden, um welchen die Ideen einer allgemeinen Menschenliebe und Brüderlichkeit ohne Unterschied der Nationalität, des Glaubens, Geschlechts, der gesellschaftlichen Stellung oder Hautfarbe krystallisieren und die Ideale der Humanität sich verwirklichen könnten. (1)

2.    Das Studium der Litteratur der Arier und der Religionen, Philosophien und Wissenschaften des Ostens zu befördern und die Wichtigkeit eines solchen Studiums bekannt zu machen. (2)

3.   Den noch unbekannten Gesetzen der Natur und im Menschen schlummernden geheimen Kräften nachzuforschen. (3)

Das Motto der Gesellschaft ist:

Es giebt keine höhere Religion als die Wahrheit selbst.

(D. h. der Mensch kann nicht näher zur Wahrheit kommen, als indem er selbst in die Wahrheit kommt und die Wahrheit in ihm selber verwirklicht wird.)


Die Leiter der Gesellschaft in äusserlichen Beziehungen sind folgende:

Für die Gesellschaft im allgemeinen: Präsident Col. H. S. Olcott in Adyar bei Madras, Indien. – Vicepräsident W. Q. Judge, New-York, U. S. Amerika. – Schriftführer S. E. Gopala Charlu in Adyar, Madras.

Europäische Abteilung. Vorstand: G. R. S. Mead, B. A. 19 Avenue Road, Regents Park, London NW., England.

Amerikanische Abteilung. Vorstand: William Q. Judge, 144 Madison Avenue, New-York.

Indische Abteilung. Vorstand: Bertram Keightley, M. A., Adyar, Madras.

Jede dieser Abteilungen schliesst in sich eine Anzahl von Zweiggesellschaften; im ganzen zur Zeit 266, wovon 165 in Indien und Ceylon, 63 in Amerika, 25 in Europa, 8 in Australien und 4 in Japan, Burmah, China und Westindien sich befinden.

Die grösste Anzahl der europäischen Zweiggesellschaften befindet sich in England (17), welche wieder in verschiedenen Städten ihre Unterabteilungen (zusammen 43) haben.

·        In Deutschland befindet sich eine in Berlin. (4)
·        In Österreich zwei, in Wien und in Prag. (5)
·        In Frankreich zwei, in Paris mit Unterabteilungen, in Havre und Toulon.
·        In Griechenland eine, in Corfu.
·        Für Holland und Belgien eine, in Amsterdam, mit drei Unterabteilungen.
·        In Italien eine, in Rom.
·        In Russland eine, in Odessa. (5)
·        In Spanien eine, in Madrid, mit drei Unterabteilungen.
·        In Schweden eine, in Stockholm, mit drei Unterabteilungen.
·        In der Schweiz eine, in Locarno.

Ausser einer Menge von Litteratur in verschiedenen Sprachen verfügt die Gesellschaft über eine Reihe von Journalen, welche je nach den Begabungen ihrer Verfasser die theosophischen Ideen zu verbreiten suchen. Von diesen erscheinen 12 in englischer, 2 in französischer, 2 in deutscher, 1 in schwedischer, 1 in italienischer, 1 in holländischer Sprache, und eine Reihe von anderen in indischen Dialekten, Sanskrit und Japanesisch. Beson dere Erwähnung verdienen:

  - „The Theosophist“, Adyar, Madras.
  - „Lucifer“, 7 Duke Street, Adelphi, London, W. C.
  - „The Path“, 144 Madison Avenue, New-York, U. S. A.
  - „Le Lotus Bleu“, 1 4 rue Chaptal, Paris.
  - „Estudios Teosóficos“, Calle de Tallers, 53, Barcelona.
  - „Sphinx“, Steglitz bei Berlin.

Alle Art von theosophischer Litteratur kann bezogen werden durch die „Theosophical Publication Society“, 7 Duke Street, Adelphi, London, W. C, und durch die Buchhandlung von Wilhelm Friedrich in Leipzig.

Durch die Thätigkeit der theosophischen Gesellschaft wurde eine Reihe von humanitären Institutionen, besonders in Indien und England, geschaffen, so z. B. den indischen Frauen die Möglichkeit einer Erziehung und den Witwen die gesetzliche Genehmigung der Wiederverheiratung verschafft, in Indien und Ceylon Sanskrit und andere Schulen eröffnet, in London für die arbeitenden Klassen Unterkunftshäuser und Versorgungsanstalten für Kinder, öffentliche Lesezimmer u. s. w. gegründet. Auf eine Beschreibung der Thätigkeit der theosophischen Gesellschaft hier einzugehen, ist nicht unsere Absicht, und ebenso denken wir nicht daran, für irgend jemand Propaganda machen zu wollen.

Da die Theosophie die Selbsterkenntnis der ewigen Wahrheit ist, und da sich dieser Erkenntnis kein grösseres Hindernis in den Weg stellt, als der Egoismus, beziehe er sich nun auf den persönlichen Vorteil des einzelnen oder den Vorteil irgend einer Kirche, Körperschaft oder eines Staates, so versteht es sich wohl von selbst, dass es nicht in der Absicht der Mitglieder der theosophischen Gesellschaft liegen kann, mit sektiererischen Katzbalgereien, kirchlichen Angelegenheiten, Politik oder mit irgend etwas, wobei der eine Teil auf Kosten des anderen Teils sich zu bereichern oder zu erheben trachtet, sich zu beschäftigen. Die Theosophie kennt nur eine einzige Menschheit, nur einen einzigen Gott, welcher die Wahrheit und Wesenheit ist, während alles übrige der Welt der Erscheinungen, welche vergänglich sind, angehört. Dieses göttliche Ideal im Menschlichen zu verwirklichen, die Bedingungen herzustellen, unter denen Gott sich in seiner Gottheit in der ganzen Menscheit offenbaren kann, dies ist der Zweck, welchen diejenigen im Auge haben, welche zur Gründung der theosophischen Gesellschaft den Anlass gaben, und welche über diese Bewegung wachen. Ihre Namen sind nur den Eingeweihten bekannt, und sie haben kein Verlangen, persönlich vor die Öffentlichkeit zu treten; sie können aber leicht von jedem gefunden werden, der sich erst selber gefunden hat.




Hinweise

(1) Die Mitglieder der theosophischen Gesellschaft geben sich nichtder Illusionhin, dass sie schnurstracks das goldene Zeitalter auf Erden einführen könnten. Sie versuchen aber einen Kreis zu bilden, in welchem die Ideale der Menschheit sich so viel als jetzt möglich ist verwirklicht finden, und es ist kein Grund vorhanden, weshalb ein solcher Kreis sich nicht immer weiter ausbreiten kann. Es handelt sich bloss darum, einmal den Anfang zu machen.

(2) Die Wissenschaften des Ostens, von denen hier die Rede ist, beziehen sich nicht wie die Wissenschaften des Westens auf die Kenntnis äusserer Vorgänge in der Natur, sondern auf die inneren „geistigen“ Vorgänge, welche allen äusseren Erscheinungen zu Grunde liegen. Was die Erklärungen der äusseren Naturerscheinungen betrifft, so übertrifft die Wissenschaft des Westens diejenige des Ostens; dagegen finden sich unter den Völkern des Ostens viel mehr Personen, welche durch die Ausübung von Yoga zu einer höheren geistigen Bewusstseinsstufe gelangt sind und in Folge dessen eine höhere „geistige“ Wahrnehmungsfähigkeit besitzen. Ihre Wissenschaft umfasst eine durch eigene Anschauung erlangte Kenntnis von Dingen, welche den europäischen Philosophen entweder gar nicht, oder nur auf dem Umwege der philosophischen Spekulation annähernd bekannt sind. Dazu gehören z. B. Beschaffenheit der seelischen und geistigen Konstitution des Menschen, des Weltalls, die Erkenntnis der verborgenen Gesetze der Evolution, der Zustände der verschiedenen Elemente des Menschen nach dem Tode seines Körpers u. s. w. Auch handelt es sich hierbei nicht um ein gläubiges Annehmen und Nachbeten von Theorien, sondern um Fingerzeige für die eigene Forschung.

(3) Die „noch unbekannten Gesetze der Natur“ beziehen sich auf die Wirkungen des Gesetzes des Geistes in der Natur, denn hinter der äusseren Natur ist noch eine tiefer liegende, wenig bekannte Natur verborgen. Es gehören dahin die Wirkungen des Willens und der Vorstellung in der Natur, überhaupt alle Fragen, welche die Philosophen heutzutage beschäftigen. Die im Menschen schlummernden geheimen Kräfte aber sind die verschiedenen Stufen des Bewusstseins, innere Wahrnehmungsfähigkeiten, die Kraft des selbstbewussten Willens, des Glaubens, der Hoffnung, Liebe, Selbstbeherrschung, Geduld u. s. w., deren Eigenschaften alle nur dadurch erforscht werden können, dass man sie im praktischen Leben zur Ausübung bringt.

(4) Die oben angeführte Grundlage ist das einzige, was für uns in der Beurteilung des Wirkungskreises der „Theosophischen Gesellschaft“ von Wichtigkeit ist, und je mehr jeder einzelne die Wahrheit der darin enthaltenen Ideen erkennt und verwirklicht, um so mehr wird es ihm und dem Ganzen Nutzen bringen. Die „Theosophische Gesellschaft" als solche hat keinerlei Dogmen; sie überlässt es jedem, zu glauben was er will und auf seine Weise zur Erkenntnis zu kommen. Es ist daher auch kein Mitglied verantwortlich für das, was ein anderes Mitglied allenfalls zu lehren oder behaupten sich berufen fühlen sollte. Es steht jedem frei, eine Meinung auszusprechen, wie es auch jedermann freisteht, dieselbe anzunehmen oder zu verwerfen. Der einzige unfehlbare Leiter ist die Wahrheit selbst, und sie offenbart sich jedem, der sie erkennt.

(5) Aus gewissen Gründen, die hier nicht zu erörtern sind, wurde in Österreich und Russland dem Bestehen dieser Gesellschaften, hinter denen man eine Art von „Freimaurerei“ witterte, nicht die gesetzliche Bewilligung erteilt. Die dort befindlichen Mitglieder sind deshalb nur als Mitglieder der europäischen Sektion, welche sich zur Zeit in den betreffenden Städten aufhalten, zu betrachten.


(Lotusblüten, 1893, Band 1, S. 60-68)





Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen